In engen Spitzkehren schlängelt sich die Straße vom Ufer des Sees Pamvotida die steile Flanke des Mitsikeli-Bergmassivs hinauf. Sie führt zum Dorf Ligiades. Diesen Weg nimmt Joachim Gauck am Freitag. Der Bundespräsident wird die Straße nicht leichten Herzens hinauffahren. Am 3. Oktober 1943 ermordeten deutsche Soldaten dort nahezu 100 Frauen, Kinder und Greise. Manche in Deutschland kennen inzwischen die Namen Distomo, Paramythia oder Komeno – griechische Orte, in denen die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Hunderte Zivilisten ermordete. Auch von Kalavryta hat man gehört, seit im April 2000 der damalige Bundespräsident Johannes Rau den Bergort besuchte, um der Opfer eines Massenmordes der Wehrmacht zu gedenken. Das Massaker von Ligiades war in Deutschland dagegen lange fast unbekannt. Manche sprechen von einem „vergessenen Verbrechen“.
Jetzt stellt sich Bundespräsident Gauck diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, das gerade in der Krise des Landes die griechisch-deutschen Beziehungen stärker überschattet als je zuvor in der Nachkriegszeit. Nicht wenige Griechen verstehen den strikten Sparkurs, den ihr Land auf Druck der internationalen Geldgeber steuern muss, als „deutsches Diktat“, sehen ihr Land gar erneut unter „Besatzung“.
Sie kamen am späten Vormittag des 3. Oktober 1943 über jene Serpentinen, die auch Gauck nach Ligiades führen werden: Fünf Lastwagen mit Soldaten des Feldersatzbataillons 79. Damals war es noch keine ausgebaute Straße. Als der Weg zu schmal, die Spitzkehren zu eng wurden, gingen die Soldaten zu Fuß weiter. Sie kamen nach Ligiades, um Rache zu nehmen für den Tod des Oberstleutnants Josef Salminger, der drei Tage zuvor mit seinem Horch-Geländewagen in eine Straßensperre griechischer Partisanen geraten war und erschossen wurde. An jenem Sonntagvormittag waren fast nur Frauen, Kinder und einige Greise im Dorf, die Männer waren in den Bergen bei den Herden oder auf den Feldern.
Zeitzeugen haben beschrieben, was geschah: „Die Soldaten trieben die Dorfbewohner wie Vieh im unteren Ortsteil zusammen. Sie pferchten die Menschen in die Keller der Häuser und schossen in die Menge.“ Nur fünf überlebten das Massaker. Einer von ihnen war Panagiotis Baboskas, der damals vier Monate alt war. Zwei Tage nach dem Massaker fand man das Baby zwischen mehreren Leichen in einem Keller im Arm seiner getöteten Mutter. Der damals 24-jährige Nikolaos Rouskas sah mit an, wie sein Vater und seine Tochter erschossen wurden. Er selbst überlebte, weil die Mörder ihn für tot hielten.
Nach dem Massaker plünderten die deutschen Gebirgsjäger das Dorf und steckten die Häuser in Brand. Eintrag im Kriegstagebuch der Division: „Im Dorf Lingiades, 1015 Meter über Normalnull, schwacher Widerstand des Feindes. 50 Bürger vernichtet. Lingiades verbrannt. Beute: 20 Maultiere.“ Nach griechischen Quellen war die Zahl der Opfer deutlich höher. Auf der marmornen Gedenktafel im Dorf stehen die Namen von 82 Getöteten. Das jüngste Opfer war zwei Monate alt, das älteste 100 Jahre.
Der Besuch des Bundespräsidenten am Tatort des Massakers wird von einer peinlichen diplomatischen Entgleisung begleitet. Der korrekte Ortsname, aus dem Griechischen übersetzt, lautet Ligiades. Das Bundespräsidialamt entschied sich jedoch nach langem Hin und Her für „Lingiades“ und übernimmt damit die Schreibweise der deutschen Wehrmacht – eine grobe Instinktlosigkeit, von der die Bewohner des leidgeprüften Ortes hoffentlich nichts erfahren.
Joachim Gauck wird die Gedenkstätte am Freitag mit dem griechischen Staatspräsidenten Karolos Papoulias besuchen. Die Biografie des 84-Jährigen, der in den 1980er und 90er Jahren neun Jahre lang Außenminister seines Landes war, bevor er 2005 zum Präsidenten gewählt wurde, ist eng mit diesem Landstrich, aber auch untrennbar mit Deutschland verbunden. Papoulias kam 1929 in Ioannina zur Welt, jener Kreisstadt, die man von Ligiades aus unten, am anderen Ufer des Sees liegen sieht. Als 14-Jähriger schloss sich Papoulias den Partisanen an, die in den Bergen seiner Heimatprovinz Epirus gegen die deutschen Besatzer kämpften.
Dass er dann in den 1960er Jahren Deutschland als Studienort wählte, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Obwohl Griechenland wie wenige Länder unter der deutschen Besatzung gelitten hatte, zeigten die Griechen nach Kriegsende ein geradezu beschämendes Maß an Versöhnungsbereitschaft. So wurde 1952 das erste Goethe-Institut im Ausland in Athen eröffnet. Und Theodor Heuss wurde 1956 zu seinem ersten Staatsbesuch nach Griechenland eingeladen.
Papoulias fand während der griechischen Obristendiktatur 1967 bis 1974 in Deutschland politisches Asyl und promovierte an der Universität Köln zum Dr. jur. Am Rhein hat der Grieche bleibende Spuren hinterlassen: Um seinen Lebensunterhalt und sein Studium zu finanzieren, pflanzte er als Waldarbeiter im Königsforst mehrere Tausend Bäume. Viele ältere Griechen kennen Papoulias aus jenen Jahren als „Stimme des Widerstandes“: Als Mitarbeiter des griechischen Programms der Deutschen Welle engagierte er sich gegen die Militärjunta in seiner Heimat – was ihm Morddrohungen einbrachte. Bundeskanzler Willy Brandt erfuhr von der Gefährdung und ordnete Personenschutz für Papoulias an – „eine Hilfe, an die ich mit großer Dankbarkeit zurückdenke“, sagt Papoulias. Die Verbindungen des griechischen Präsidenten nach Deutschland sind immer noch eng. Dort leben seine drei Töchter.
Mit dem deutschen Gast wird Papoulias in seiner Heimatstadt Ioannina auch die jüdische Gemeinde besuchen. Für Joachim Gauck ist dieser Programmpunkt seines Staatsbesuchs eine weitere Erinnerung daran, wie tief Deutschland in der Schuld der Griechen steht. In Ioannina gab es zu Kriegsbeginn eine etwa 1800 Menschen zählende jüdische Gemeinde. Am 25. März 1944 umstellten deutsche Soldaten das jüdische Viertel am Ufer des Pamvotida-Sees. Etwa 1700 Juden wurden zunächst mit Lastwagen in ein Lager bei Larissa und dann per Eisenbahn in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht und dort ermordet. Bereits im Jahr zuvor hatten die deutschen Besatzer in 19 Zugtransporten etwa 44 000 Juden aus Thessaloniki, fast die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt, in die Vernichtungslager geschickt.
Die deutschen Besatzer haben in Griechenland furchtbar gewütet. In den dreieinhalb Besatzungsjahren wurden rund 30 000 griechische Zivilisten exekutiert, darunter Frauen, Kinder und Greise – meist als „Sühnemaßnahmen“ für Partisanenangriffe. 70 000 griechische Juden wurden in die KZs verschleppt. 300 000 Griechen erfroren und verhungerten, weil die Deutschen Lebensmittel und Brennstoffe konfisziert hatten. 500 000 Wohnungen, 50 Prozent der Industrie und 75 Prozent des Straßen- und Schienennetzes wurden zerstört. Mit einer Zwangsanleihe bei der Bank von Griechenland bürdeten die Deutschen den Griechen auch noch die Kosten der Besatzung auf.
1960 zahlte Deutschland 115 Millionen DM Entschädigung an Griechenland. Das Geld war vor allem für die Hinterbliebenen der ermordeten Juden bestimmt. Auf Reparationen für die angerichteten Schäden und die Rückzahlung der Zwangsanleihe warten die Griechen vergeblich. Es geht um schwindelerregende Summen: Widerstandsorganisationen beziffern die Forderungen auf 162 Milliarden Euro – plus Zinsen.
Nach offizieller deutscher Lesart hat sich das Thema längst erledigt. Fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende stelle sich die Frage deutscher Reparationen nicht mehr, heißt es. Griechenland dagegen betrachtet die Reparationsfrage als offen: Man behalte sich vor, „eine befriedigende Lösung zu finden“, erklärte kürzlich Vize-Finanzminister Christos Staikouras. Ministerpräsident Antonis Samaras ist in einem Dilemma: Einerseits will er das eben erst einigermaßen reparierte Verhältnis zu Kanzlerin Merkel nicht mit Reparationsforderungen belasten. Verzichten kann er allerdings auf die Entschädigung auch nicht, das würde einen innenpolitischen Sturm der Empörung auslösen. So wurde nun erst einmal die Einsetzung eines Parlamentsausschusses beschlossen, der die Ansprüche prüfen und beziffern soll.
Vor 14 Jahren besuchte der damalige Bundespräsident Johannes Rau das Bergdorf Kalavryta, wo die deutschen Besatzer am 13. Dezember 1943 fast 700 Einwohner als Vergeltung für einen Partisanenüberfall exekutierten. „Ich empfinde an diesem Ort tiefe Trauer und Scham“, sagte Rau. Reparationen konnte er nicht zusagen. Er versprach jedoch, sich für „eine Geste“ einzusetzen. Aber auch die ist ausgeblieben.
„Im Dorf Lingiades, 1015 Meter über Normalnull, schwacher Widerstand des Feindes.
50 Bürger vernichtet.“