
Das kommt vermutlich nicht so oft vor: Christian Ude und Joachim Herrmann sind „haargenau“ (Ude) einer Meinung. Ein Verdienst von Facebook, allerdings nicht im vielfach propagierten Sinne des Netzwerks, sondern in der Skepsis ihm gegenüber. „Das etwas verunglückte Bundesmeldegesetz ist ein Spitzenprodukt in Sachen Datenschutz gegenüber dem, was einem bei Facebook widerfährt“, hatte Herrmann gesagt, und Ude pflichtete ihm bei. Joachim Herrmann (CSU, Innenminister) und Christian Ude (SPD, Münchner OB und Gegenkandidat von Herrmanns Chef) diskutierten am Donnerstag im Schweinfurter Konferenzzentrum mit weiteren Bürgermeistern und Wissenschaftlern auf dem Podium des Bayerischen Städtetags über das Thema Bürgerbeteiligung.
Vor dem Hintergrund mäßiger Wahlbeteiligungen und noch mäßigerer Beteiligungen an Bürgerentscheiden und den Phänomenen Wutbürger und Internet stellen sich die bayerischen Städte der Frage, ob das Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie nicht neu justiert werden muss. Städtetagspräsident Ulrich Maly, der die Hauptrede hielt, hatte sich am Vortag ein „fröhliches Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie“ gewünscht, er gehört gleichzeitig aber zu denen, die mit dem Thema Bürgerbeteiligung am offensten umgehen.
Dank der langen Tradition der Direktwahl des Bürgermeisters und der Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens bei Stadtratswahlen habe die politische Ebene vergleichsweise große Legitimation. Aber: „Unsere formalisierten Entscheidungsformen sind nicht wirklich Partizipation, etwa beim Baurecht, das müssen wir offen zugeben.“ Maly benutzt den Begriff „punktuelle Legitimitätsbegrenzung“, um Phänomene wie Stuttgart 21 zu erklären. Der Wähler mag grundsätzlich durchaus mit seinen politischen Vertretern zufrieden sein, hin und wieder verweigert er ihnen dennoch die Gefolgschaft. Christian Ude, der nie um seine Wiederwahl bangen müsse, habe das in der Frage der Höhe von Hochhäusern in München auch schon erlebt.
„Wir müssen uns rantasten an einen offenen Umgang mit direkter Demokratie“, sagt Maly. Wie der aussehen soll, das weiß an diesem Vormittag noch niemand. Allerdings stellt der Nürnberger OB ein paar Bedingungen: Die Anliegen müssen für alle verständlich sein, anders als die Stimmzettel bei vielen Bürgerbegehren, und sie müssen von gesamtstädtischem Interesse sein. Keinesfalls dürften Stadtviertel oder soziale Schichten gegeneinander ausgespielt werden. Das mit der Verständlichkeit ist ein Dauerproblem, Maly wählt das Beispiel Architekturwettbewerb: „Der Preis ist vergeben, die Jury ist weg, und wir müssen dem Bürger mit Worten, die wir selbst nicht verstehen, erklären, warum das der schönste Entwurf ist. Da sagt dann der Bürger, 'Entschuldigung, Herr Oberbürgermeister, aber dazu habe ich eine andere Meinung'.“
Den neuen Medien steht auch Maly eher zurückhaltend gegenüber. „Vermutlich twittert im Saal gerade jemand 'Film gesehen, gestern spät geworden, Maly redet immer noch' – ich will das von meinem Bürgermeister nicht wissen.“ In den Online-Meinungsforen sieht er nicht mehr und nicht weniger als eine von sehr vielen Facetten des öffentlichen Diskurses, ähnlich dem Marktplatz im antiken Griechenland. „Aber ich bin bei diesem Thema selbst noch Suchender.“
Maly verbindet das konkrete Beispiel immer auch mit grundsätzlicher Argumentation: In der Summe der Einzelinteressen sei noch nicht das allgemeine Wohl definiert, sagt er und zitiert Rousseau, Habermas und Max Weber. Und den Ruhrpott-Kabarettisten Frank Goosen: „Woanders is auch scheiße.“ Das lässt er dann aber doch nicht als Schlusswort stehen, sondern ruft lieber echt fränkisch zu optimistischem Tatendrang auf: „Leicht werd's ned, aber wenn's leicht wär', könnt's ja jeder.“
„Es geht nicht immer um aktive Beteiligung, oft haben die Bürger nur das Gefühl, schlecht informiert worden zu sein“, sagt Podiumsteilnehmerin Carda Seidel, Oberbürgermeisterin von Ansbach. Und dann zeigt sich, dass Joachim Herrmann und Christian Ude nur beim Thema Facebook einer Meinung sind. Während Herrmann etwa bei Bauprojekten für möglichst frühzeitige Einbeziehung des Bürgers plädiert, sieht Ude genau darin einen „ganz perfiden Herrschaftstrick“. Solange es keine strittigen Entwürfe gebe, die unerwünschte Phänomene wie Leserbriefkampagnen provozieren, könne man alles leicht „über die Klippen“ bringen. Zumal in diesen Anfangsstadien die Zahl der Interessenten aus der Bürgerschaft ohnehin minimal sei.
Wie Maly plädiert auch Ude für eine eher nüchterne Einordnung der Erfahrungen von Stuttgart 21: „Es ist nicht so, dass alle Bürger ihre Abende mit Bahnhofsplanung verbringen wollen, das kann ich verbindlich sagen.“
Die Erfahrungen von Carda Seidel und Ingolstadts OB Alfred Lehmann deuten darauf hin, dass ein offensiver Umgang mit bereits vorhandenen Instrumenten der Beteiligung vielen Konflikten schon vorab die Spitze nehmen kann. So gibt es in Ingolstadt zwölf Bezirksausschüsse mit 174 Ehrenamtlichen, die aktiv in die Stadtpolitik eingebunden sind. Das führe unter anderem dazu, dass die andernorts eher gefürchteten Bürgerversammlungen meist „relativ harmlos“ verlaufen. Doch analoge lokale Bürgerbeteiligung kann auch in Ingolstadt nicht schützen vor der Dynamik digitaler Entrüstung. „Wir haben Parkbänke aus zertifiziertem Tropenholz aufgestellt“, erzählt Lehmann. Das sei auch als Beitrag zur Entwicklungshilfe gedacht gewesen. „Dagegen kamen dann aber 16 000 Klicks auf Facebook, bis aus Australien.“