Einfach verrückt, dieser Kerl! Ja, er muss verrückt sein! Wie sonst kann es einen selig machen, Schwielen an den Händen zu bekommen? Oder Schmerzen am Hintern, dass man es sich dreimal überlegt, sich hinzusetzen? Walter Lauter muss wirklich verrückt sein, ist verrückt, verrückt aufs Radfahren. Der Bad Kissinger ist Extrem-Biker. Und wenn er absteigt, erstaunlich normal. Aber nur dann.
Walter Lauter erzählt schon auch gerne vom Weißbier mit Freunden, vom Grillabend mit der Familie. Er sei kein Asket, sagt er und hebt den Finger dabei. Auch kein Einzelgänger. „Ich bin gerne unter Leuten, aber von den ungefähr hundert, die ich übers Fahrradfahren kenne, machen vielleicht zwei das mit, was ich mache“, beschreibt der 55-Jährige, warum er dann doch oft alleine unterwegs ist.
Ganz besonders dann, wenn er mal wieder der Meinung ist, er müsse jetzt den ehemaligen Grenzstreifen zur DDR entlangradeln, in einem Wettstreit wohlgemerkt. Grenzstein-Trophy heißt die Plackerei mit dem Mountainbike über 1270 Kilometer und 18 000 Höhenmeter – zu bewältigen in acht Tagen, mitten in der Juli-Hitze, beinahe ausschließlich über diese seltsamen, gelochten Panzerplatten. Das ist ein fürchterliches Geschüttel und Gerüttel für Mensch und Material: „Das zermürbt so, das führt mitunter zu einer Sinnkrise“, gesteht Lauter.
Und schwärmt keine zehn Sekunden später wieder in den höchsten Tönen. Von diesem kleinen Wirtshaus „Zur gemütlichen Kleintierschenke“, die im Zielort der Grenzstein-Trophy steht, die geschlossen hat, aber deren Tür offensteht, offen für die paar Verrückten, die wirklich durchgehalten haben und nun über viele Stunden verteilt eintrudeln – 2011 waren es zehn von 29. „Da liegt ein rotes Buch auf der Theke, da schreibt jeder rein, wann er angekommen ist“, sagt Lauter. „Und dann werfe ich zwei Euro in die Sparbüchse, nehme mir ein Bier aus dem extra für uns hingestellten Kasten und trinke es im Freien.“ Allein. Ist das nicht frustrierend? „Nein. Du bist da so alle, da brauchst du keinen Zielapplaus.“ Siegerliste oder Preise gibt's natürlich auch nicht.
Nun, ohnehin liegen da ja schon ein paar Tage Einsamkeit hinter den Radlern. Das Ganze ist nämlich eine sogenannte Self-Support-Trophy. Alle benötigten Utensilien müssen die Sportler mit sich führen oder vor Ort organisieren, Übernachtungen dürfen nicht vorher organisiert werden. Walter Lauter hat sich minimalistisches Gepäck besorgt für solche Wettbewerbe: Zelt, Isomatte und Schlafsack wiegen zusammen 1,45 Kilogramm. Da kommen dann noch eine Radhose und ein Trikot Ersatz dazu, ein Flachmännchen Ramazzotti und – unverzichtbar – das GPS-Gerät, mit dem die Route beinahe zentimetergenau einzuhalten ist.
Wie schaut er aus, so ein Tag allein mit Rad und Natur und unzähligen Kilometern? „Ganz einfach: Um Fünf aufstehen und fahren bis in die Dämmerung“, erzählt das 1,70-Meter-Kraftpaket. Klingt härter als die Tour de France? Lauter schüttelt den Kopf. „Die Profis fahren oft im Schmerzbereich, haben ihren Leistungsstress aber nur über fünf Stunden. Wir fahren, von Sitz- und Rückenproblemen abgesehen, selten im Schmerzbereich, dafür aber über 15 oder 18 Stunden.“ Wie war das noch mal mit der Sinnkrise? „Wenn das Knie so richtig weh tut, sagst du dir einfach: Mensch, in Summe geht's mir doch gut. Das bisschen Knie bekomme ich wieder hin.“ Das hilft? „Ja.“ Aha.
Daheim im Bad Kissinger Stadtteil Hausen bekommen bestenfalls Frühaufsteher oder Nachtschwärmer mit, wenn sich Walter Lauter auf derlei Späße vorbereitet. Wenn nämlich ein Rennen ansteht, dann gibt sich der IT-Administrator nicht damit zufrieden wie sonst so oft mit dem Drahtesel nach Schweinfurt zur Arbeit zu strampeln, da nimmt er gerne mal den Umweg über Gemünden und Würzburg. Um 4.30 Uhr geht's los: „Körperlich müde, aber geistig hellwach komme ich dann am Schreibtisch an.“ Noch lieber kommt Lauter in München an, bei seinen fast schon legendären Eintages-Trips. Abfahrt 0 Uhr, Fahrtdauer zwölf Stunden plus-minus. „Bin ich vor Zwölf am Bahnhof, gibt's Weißwurst und Weißbier. Wird es nach Zwölf, gibt's Bockwurst und ein Helles.“ Und dann zurück mit den Zug.
Vier, fünf größere Wettkämpfe oder Touren, die Münchner G'schichten, 30 bis 50 Mal im Jahr auf den Kreuzberg, zur Arbeit radeln, die Arbeit selbst, unzählige weitere Trainingskilometer mit der Hausener Radgruppe und dem TSV Brendlorenzen – ist da überhaupt Platz für eine Frau? „Ja, die Heidi“, fängt Walter Lauter an. Schnauft kurz durch und erzählt: „Sie hat mich kennengelernt als einer, der umtriebig ist, sie kümmert sich um Haus und Kinder, hat mit der Malerei auch ein intensives Hobby. Wenn man sich nicht so oft sieht, muss das für eine Beziehung nicht das Schädlichste sein. Man vermisst eben immer das, was man nicht hat.“ Lang genug gut geht es ja: Walter und seine elf Jahre jüngere Heidi sind seit 27 Jahren zusammen, seit 19 mit Trauschein. Sohn Marc (17) spielt Fußball und Badminton, Tochter Mona (14) Handball – Radfahrer im Hause Lauter ist nur Walter.
Das war nicht immer so. Karate, Wasserski, Bogenschießen – Walter Lauter hat schon einiges durch, alles exzessiv und erfolgreich. Klar. Die vielleicht größte Leidenschaft aber galt mal dem Motorrad – ausnahmsweise gemeinsam mit der Gattin. Nach einigen schweren Unfällen im Freundeskreis hat er jedoch die Maschine 1990 gegen einen Campingbus eingetauscht. Nach einem Skandinavien-Urlaub – auch mit Gattin – kam daheim der Gedanke: Mit einem Klapprad hätte man vor Ort wesentlich mehr erleben können. Da hat ein guter Freund gemeint, das mit dem Klapprad sei Blödsinn, ein Mountainbike viel sinnvoller. Und schon hatte Familie Lauter ein Mountainbike – und Heidi, Marc und Mona hatten Ruhe vor Mann und Papa.
Schnell war Walter Lauter klar, dass er nicht nur ein bisschen durch die Gegend radeln wollte. Und da bekanntlich vor der Leistung das Üben kommt, übte er wie ein Wilder. Auch wenn die Anfänge heute etwas planlos klingen. Ohne das GPS-Gerät, ohne exakte Routenpläne war es nicht so einfach, strukturiert auf eine wirklich lange Wettkampfdistanz zu trainieren. Also suchte Lauter sich einen ruhigen Weg, 17 Kilometer lang, den er so lange hin und her radelte, bis er 500 Kilometer auf dem Tacho hatte. Aber Lauter war – obwohl um Mitternacht gestartet – längst nicht müde, korrigierte also spontan sein Tagesziel auf 600. Beinahe hätte er es auch gepackt, wäre da nicht nach 560 Kilometern ein Handyanruf eines Kumpels gekommen: „Ein Weißbier im Biergarten?“ Das war natürlich ein Grund, sofort das Rad in seinen Bus zu packen . . .
1995 begann Walter Lauter dann penibel über jeden gefahrenen Meter Buch zu führen. 250 000 Kilometer und 2,5 Millionen Höhenmeter sind zusammengekommen – sapperlott! Und warum? „Radfahren baut Stress ab, lässt mich mein Gewicht halten, weil ich nicht immer gesund lebe.“ So? „Ja, im Winter sind es ein paar Bier mehr, dann das fettere Essen. Aber: Mein Immunsystem ist inzwischen sehr stabil. Vor 15 Jahren ging mein Hausarzt in Pension, seither war ich nicht mehr beim Doktor, abgesehen von einmal Zahnarzt.“ Und wie ist das mit dem sportlichen Ehrgeiz? Warum diese ungewöhnlichen Wettkämpfe? Es ist die Herausforderung. Dennoch bezeichnet sich Walter Lauter nicht wirklich als Extremsportler. „Sagen wir so: Ich kenne viele, die besser sind. Aber ich kenne viele mehr, die langsamer sind.“
Das war in den letzten Jahren so, ob bei der „Quäldich.de-Deutschlandrundfahrt“, einem Rennradrennen über 1500 Kilometer und 24 000 Höhenmeter. Oder der „Trans Germany“, wo es auf dem Mountainbike im Voralpenraum rauf und runter geht und Lauter im vorderen Viertel platziert war. Oder beim „Schlaflos im Sattel“, ebenfalls einem MTB-Rennen, das im August an einem Samstag um 20.59 Uhr losging und am Sonntag um 5.56 Uhr abgewunken wurde – dazwischen lagen Dutzende 13-Kilometer-Runden durch den Wald, von Sonnenunter- bis -aufgang quasi.
Klingt spannend. Ist es ja auch. Doch Walter Lauter wäre nicht Walter Lauter, wären diese Events für ihn, na, ja, nicht gerade langweilig, aber nicht doch zu toppen. So gibt's ein paar neue Eintragungen im Lauter'schen Terminkalender. Derzeit radelt er mit einem Kumpan auf Mallorca, immer an der Küste entlang, so nah wie möglich am Meer. „Ich habe aus Dutzenden Strecken die unsrige zusammengetüftelt“, sagt der gebürtige Schwebenrieder, den die Liebe in die Kurstadt geführt hat. „Natürlich wieder alles Self-Support.“ Der Zeitplan ist eng gestrickt. Der Flieger nach Hause ist exakt sieben Tage nach der Ankunft gebucht – und der wartet nicht auf die beiden Abenteurer. Die nackten Streckenfakten lesen sich wie gewohnt: 500 Kilometer bei 7500 Höhenmetern. Kleine Bedenken hatte Lauter vor der Abreise: „Das größte Problem ist, dass 80 Prozent der Wege privat sind. Keine Ahnung, was uns da erwartet.“
Etwas genauer weiß der 55-Jährige das für die Juli-Tour, die er kurz nach der Grenzstein-Trophy einbaut: eine Alpenüberquerung mit dem Mountainbike. „Sechs Tage haben wir eingeplant“, weil es auch ohne Wettkampf irgendwie gegen die Uhr gehen muss. Dreitausender werden da am Fließband abgeradelt. Doch der Sommer ist lang: „Ein paar kleine Rad- oder Mountainbike-Rennen werde ich kurzfristig einstreuen.“ Wetten, dass es nicht ohne Tausende Höhenmeter abgehen wird?
Für alle, die gerne Rad fahren, es aber nicht so extrem mögen wie Walter Lauter, empfehlen Mitarbeiter dieser Zeitung auf der nächsten Seite vier Radtouren in der Region.