Lenni ist mein fünftes Enkele“, sagt Marliese Müller aus Eisingen (Lkr. Würzburg) strahlend. Lenni kam an einem kalten, regennassen Tag Ende Mai ins Haus und brachte gerade mal zwei Kilogramm auf die Küchenwaage. Damals hatte er noch süße weiße Punkte auf seinem braunen Rückenfell. Er blickte Marliese Müller aus großen schwarzen Augen unter langen Wimpern an und gewann auf der Stelle ihr Herz. Kein Wunder. „Da sah das Rehböckchen noch aus wie Bambi“, sagt Peter Müller.
Der Jäger war an dem sechs Grad kalten Vormittag im Eisinger Gemeindewald unterwegs gewesen, da wurde er auf eine Szene in einiger Entfernung aufmerksam: Auf einem schmalen Grasfleck in der Mitte eines Fahrweges im Wald lag ein Rehkitz, das so schwach war, dass es nicht aufstehen konnte. Die Rehgeiß, die Ricke bemühte sich noch eine Weile um das Kleine, dann ging sie weg. „Sie hatte noch ein starkes Kitz bei sich. Mit dem ging sie weg und drehte sich nicht mehr um“, sagt Peter Müller. Nur so habe sie das Junge mit den größeren Überlebenschancen schützen können.
Der Jäger beobachtete in Deckung das alles mit dem Fernglas. Lange wartete er, dann ging er hin, trug das schwache Junge ins Gebüsch am Wegrand und entfernte sich wieder. „Zwei Stunden habe ich das Kitz beobachtet“, sagt er. Dann war er sich sicher, dass die Geiß nicht mehr zurückkommen würde, legte das Böckchen in seinen Jeep und fuhr es nach Hause. „Ganz in der Nähe ist nämlich eine große Fuchsbauanlage. Entweder wäre es in der Nacht erfroren oder der Fuchs hätte es geholt.“
„Es war so hilflos“, sagt Marliese Müller. Das Kitz weckte sofort Muttergefühle bei ihr. „Jetzt bin ich die Rehkitzmama“, sagt sie und schaut das Tier liebevoll an. Der kleine Braune wiegt nach fünf Wochen bei den Müllers schon sechseinhalb Kilo und schaut sehr selbstbewusst. In den ersten Tagen drehte sich für die beiden Eisinger buchstäblich alles um das Findelkind. Zunächst befreiten sie das Tier von Scharen von Zecken. „Mindestens 100 Stück“, sagt Peter Müller. „Die krochen ihm noch tagelang aus den Ohren.“ Dann recherchierten sie im Internet, wie das Tier überhaupt zu versorgen ist, und wurden bei der Rehkitzhilfe fündig. Dort erfuhren sie, dass Lenni keinesfalls Kuhmilch verträgt, sondern Ziegenmilch braucht, dass er Himbeerblätter, Haferflocken und frische, von Maulwürfen aufgeworfene Erde mag, die Peter Müller auf nassen Maiwiesen zusammensuchte.
Weil Babyfläschchen-Nuckel für das kleine Mäulchen zu groß waren, hielt Marliese Müller Lenni Milch in der hohlen Hand hin, versuchte es später in einem Gummihandschuh voll Milch, in dessen Fingerspitzen sie Löcher gestochen hatte, und fand schließlich Spielzeugfläschchen mit weichem Sauger. Sie pflückte Obstblätter, verfütterte Haferflocken und streichelte und streichelte. Das machte sie instinktiv und erfuhr später, dass es grundlegend für die Verdauung des jungen Tieres ist. Während des Säugens lecke auch die Geiß den Rücken der Kitze.
Die ersten Tage verbrachte Lenni im Haus. Inzwischen hat er ein Gehege im Garten mit einem Unterstand, der mit Fichten- und Laubholzzweigen dekoriert ist, damit sich das Böckchen wie im Wald fühlt. Er trainiert rennen und springen, nagt Heckenrosenzweige ab, saugt viermal am Tag in jeweils acht Sekunden zwei Babyfläschchen leer. Halb Eisingen habe ihm dabei schon zugeschaut, sagt Peter Müller. Vor allem Mütter und Kinder besuchen das Tier immer wieder.
„Das Kitz braucht ganz viel Liebe und Wärme“, sagt Marliese Müller. Tage saß sie an seiner Kiste. „Nächtelang habe ich fast nicht geschlafen und immer wieder geschaut, wie es ihm geht.“ Und Lenni gibt die Liebe zurück. Er leckt Arme und Füße seiner Menschenmama. „Bei anderen macht er das nicht“, sagt Peter Müller.
Diese Anhänglichkeit allerdings ist es, die seine Frau jetzt schon traurig macht. Weil Lenni ein Böckchen ist, kann er nicht lange bei seiner Menschenfamilie bleiben. Sobald er in die Bunft kommt, gehen die Hormone mit ihm durch, und das spitze Gehörn, das ihm dann gewachsen sein wird, ist eine Gefahr für die Menschen. Aber auch in der Natur aussetzen können ihn die Müllers nicht mehr. Da er auf Menschen geprägt ist, könnte er auch dann für Spaziergänger lebensgefährlich werden, die er sucht, aber mit denen er nicht umgehen kann. Der Jäger holt ein Gehörn aus seiner Trophäensammlung im Wohnzimmer. „Die Spitzen sind so scharf, die können Sie nicht abwehren, die fahren Ihnen glatt durch die Hand.“ Eine Lösung wäre, Lenni zu kastrieren. „Aber das wollen wir nicht“, sagt Peter Müller.
Mit einem weiblichen Kitz gäbe es weniger Probleme. Mit einem großen Auslauf und gesicherter Betreuung während der Urlaubszeit hätten sie ein solches behalten können. Auch in freier Wildbahn hätte es sich zurechtgefunden, sagt Peter Müller. Mitnehmen durfte er Lenni übrigens nur, weil er in dem Revier jagen durfte. „Sonst wäre das Wilderei gewesen.“
Noch etwa ein halbes Jahr bekommt das Böckchen Milch. Und auch danach sollte es noch eine Weile bei seinen Menschen bleiben, wissen die Müllers von der Rehkitzhilfe. Aber dann soll er in ein Gehege mit Artgenossen kommen. „Dem Tier zuliebe“, sagt Jäger Peter Müller. „Bloß nicht zu weit weg“, sagt Marliese Müller. Denn sie möchte das Tier besuchen können. Und die Puppenfläschchen hat sie auf alle Fälle aufbewahrt. Wer weiß, was im nächsten Frühling ist.