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Prototyp eines Profis
Von unserem Redaktionsmitglied Uli Väth
 |  aktualisiert: 16.12.2020 14:34 Uhr
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ls die Kumpels die Kohle noch unter Tage verdienen, die Stehkneipen voll sind und das Stadion noch "Rote Erde" heißt, da erlebt Borussia Dortmund seine erste große Blütezeit. 1966 gewinnt der BVB als erste deutsche Mannschaft überhaupt den Europapokal der Pokalsieger, kurz darauf wird Deutschland Vize-Weltmeister in England. Es ist die Zeit, als die Republik ihre Helden feiert - und Marktheidenfeld seinen Held.

Einige tausend Leute sind im Spätsommer 1966 auf dem Marktheidenfelder Marktplatz versammelt und lassen Siggi Held und Lothar Emmerich (über den wir in der morgigen Ausgabe berichten) hochleben. Held ist ein Sohn der Stadt, zwar geboren im sudetendeutschen Freudenthal, aber aufgewachsen am Main, wohin es ihn 1945 als Dreijährigen mit seinen Eltern und dem älteren Bruder verschlagen hat. Die Marktheidenfelder jubeln, schließlich hat er hier das Fußballspielen erlernt, ehe er als 21-Jähriger zu den Offenbacher Kickers und zwei Jahre danach zu Borussia Dortmund wechselt.

Was nur wenige wissen: Beinahe wäre es gar nicht soweit gekommen. Denn bis zu seinem 16. Lebensjahr muss Siggi Held warten, bis er erstmals ein Fußballertrikot tragen darf. Die Eltern sind strikt dagegen; sie wollen, dass der Sohn in der Handelsschule in Wertheim seine Mittlere Reife ordentlich macht. Karl-Heinz Freund, heute Juniorenleiter beim TV Marktheidenfeld, erinnert sich: "Anfangs hat er heimlich gespielt. Wir haben dann seine verschwitzten Sachen mit nach Hause genommen und gewaschen, damit die Eltern nichts bemerkt haben." Heinz Markus, ein enger Freund von Held, weiß zudem, dass die Eltern auch der Schuhe wegen gegen das Fußballspielen waren. "Damals hatte doch jeder nur ein Paar, und damit sollte man auch noch Fußball spielen . . .", macht er deutlich, dass Familie Held wie viele andere in dieser Zeit in bescheidenen Verhältnissen lebte.

Begonnen hat Siggi Held als Torwart, doch schon nach einem Jahr ist klar, dass einer, der die 100 Meter in 11,0 Sekunden läuft, nicht länger zwischen den Pfosten stehen bleiben darf. Heinz Markus weiß: "Der Siggi war ein Multi-Talent. Mit dem Ball konnte er alles, ob es Fußball, Handball oder was anderes war. Er war sehr schnell und hatte einen saumäßig guten Start." Markus, der über Jahrzehnte fein säuberlich archiviert hat, was in der Marktheidenfelder Fußballszene passiert ist, erinnert sich an Jugendspiele, "in denen der Siggi zehn Tore und mehr geschossen hat".

Aber er weiß auch davon zu berichten, dass 1962 im entscheidenden Spiel um die Meisterschaft in der A-Klasse (heute: Kreisliga) vor 2500 Zuschauern gegen Karlstadt, "der Siggi einen Elfer ins nahe Schwimmbad geschossen hat, wir aber trotzdem noch 2:1 gewonnen haben". Und er erinnert sich ebenfalls noch ganz genau an die gewonnene Wette, als Held die Strecke Marktheidenfeld - Würzburg und zurück unter sieben Stunden gelaufen ist. Für die knapp 70 Kilometer hat er 6:50 Stunden benötigt.

Das Talent spricht sich herum. Zuerst bei der Bundeswehr. Er wechselt nach Offenbach, obwohl er vorher schon mit Viktoria Aschaffenburg einig gewesen war. Sein Heimatverein kassiert 5000 Mark als Ablöse. Dann geht es schnell und steil bergauf. Der torgefährliche Angreifer der Regionalliga Süd wird von Bundesligisten umworben. Es scheint sicher, dass Held zu Hertha BSC Berlin geht, doch Borussia Dortmund hat mehr zu bieten. Die Karriere beginnt somit in Westfalen. "Held ist der geborene Fußballer", lässt Trainer Willy Multhaupt wissen, meint dabei in erster Linie die Einstellung seines Schützlings zu seinem Beruf. Held ist einer, der für seine Leidenschaft alles gibt. Das kommt gut an im Revier, wo die Malocher gefragt sind. Held ist zwar wortkarg und wirkt spröde, aber er ist fleißig, zuverlässig und gescheit noch dazu. Der junge Mann, der sich vor seiner sportlichen Karriere in einer Marktheidenfelder Steuerkanzlei ausbilden ließ, gilt schnell als Prototyp eines Profis.

Nur ein halbes Jahr spielt der Blondschopf in der Bundesliga, und schon beruft ihn Helmut Schön in die Nationalmannschaft. Für damalige Verhältnisse ist das ein kometenhafter Aufstieg. Helds Stärke sind "die ersten fünf Meter", sagt Schön. 41-mal trägt er das Nationaltrikot, er wird Zweiter bei der WM 1966 und Dritter bei der WM 1970, wird Europameister 1972. Er bestreitet 422 Bundesliga-Spiele, sein letztes im Alter von 39 Jahren für Bayer Uerdingen. Mit 72 Toren steht er in den Annalen.

Siggi Held absolviert seine Trainerausbildung mit der Note "sehr gut", wird Trainer in Schalke, Dresden und Leipzig. Danach übernimmt der die Nationalmannschaft von Island, dann Galatasaray Istanbul und Admira/Wacker Wien, ehe er 2001 Nationaltrainer von Malta wird. Dort ist er heute noch tätig.

Die Beziehung zu Marktheidenfeld ist erloschen. Die Eltern sind verstorben, die Immobilien verkauft. Geblieben ist nur die Erinnerung.

 
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