Der Präzedenzfall mit einer zweijährigen Doping-Sperre für die erfolgreichste Winter-Olympionikin Deutschlands ohne positiven Befund hat die Sportwelt gespalten. Bei der Berufungs-Verhandlung muss der Internationale Sportgerichtshof CAS nun in einem Musterprozess ein Grundsatz-Urteil fällen, das für die Doping-Bekämpfung im Sport von richtungweisender Bedeutung sein wird.
Zum Verhängnis wurde der 37 Jahre alten Berlinerin der seit 1. Januar gültige neue Code der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, wonach Sperren bei starken Indizienketten auch ohne positiven Befund möglich sind. Die vermeintliche Sünderin setzte sich am Wochenende mit einer Medien-Offensive zur Wehr. In schwarzem Kostüm und mit dick aufgetragenem Lippenstift beschwor sie vor dem Millionen-Publikum des ZDF-Sportstudios ihre Unschuld: «Ich habe nie gedopt und auch nie Dopingmittel angeboten bekommen.» Nach dem Imageschaden droht der einstigen Vorzeige-Athletin bei einer Bestätigung der Sperre durch den CAS auch ein Disziplinar-Verfahren ihrs Arbeitgebers, der Bundespolizei, und ein finanzielles Desaster wegen des Rückzugs ihrer Sponsoren.
Während der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) der fünfmaligen Olympiasiegerin Rückhalt gewährten, sehen die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA), Politiker und Doping-Analytiker erste Erfolge der Anstrengungen um sichere Blutprofile. «Das Urteil wird vor dem CAS Bestand haben. Es darf keinen unvorbereitet treffen. Claudia war eine Vorzeige- Athletin. Daher tut das weh, aber Mitleid ist hier unangebracht. Es gibt bei mir keine Träne», sagte NADA-Vorstand Armin Baumert der Deutschen Presse Agentur dpa.
Auch für Peter Danckert, Vorsitzender des Sportausschusses im Bundestag, ist der Fall klar: «Jetzt glaubt niemand mehr, dass trotz aller Beteuerungen nicht flächendeckend gedopt wird.» Weltmeisterin Anni Friesinger bleibt skeptisch: «Wenn es wirklich Blutdoping war, muss man hart durchgreifen. Dann wäre es ein Sieg für die Doping- Kontrolleure.» Tatsächlich bestätigte die Medizinische Kommission der ISU, Pechstein habe spätestens seit 2007 auffällige Werte gehabt und sei daher besonders oft kontrolliert worden.
Anti-Doping-Forscher Werner Franke schloss eine genetische Blutkrankheit als Grund für die um 1,1 Prozent überhöhten Retikulozyten-Werte aus. «Das ist hanebüchener Unsinn, was die Anwälte da erzählen. Dann müsste sie ja ein spezielle Art der Leukämie haben und das ist bei einer Spitzensportlerin, die über so viele Jahre Top-Leistungen bringt, nicht denkbar», sagte der Heidelberger Professor der dpa. Für ihn liege ein Fall von «manipulierter Erhöhung der roten Blutkörperchen» vor. Auch sein Nürnberger Kollege Fritz Sörgel machte der Athletin im ZDF keine Hoffnung: «Es gibt kein Argument, wie der Wert zu erklären ist.»
Deutsche Spitzenfunktionäre warnten unterdessen vor einer Vorverurteilung. «Für uns gilt die Unschuldsvermutung. Ich hoffe nun auf zügige Aufklärung durch den CAS», meinte DOSB-Präsident Thomas Bach. Aufgrund eines Blutwertes sei ein Doping-Nachweis nicht zu führen, sagte DESG-Präsident Gerd Heinze, der im ZDF zudem dubiose Praktiken des Weltverbandes an den Pranger stellte. Vor der Anhörung Ende Juni in Bern habe der Tscheche Gerhardt Bubnik, der Vorsitzende der ISU-Rechtskommission, dem Verband vorgeschlagen, das Verfahren einzustellen, wenn Pechstein ihre Laufbahn beende. «Das hat mich gelähmt und erschüttert. Aber das zeigt, dass die ISU nicht sicher ist, ob das Verfahren allen Rechtsansprüchen genügt», so Heinze.
Im Rahmen einer umfangreichen Auflistung von Details auf ihrer Homepage beklagte Pechstein eine «öffentliche Hinrichtung» durch die ISU, räumte aber auch Fehler und Lügen ein. Im dpa-Interview schilderte sie, wie die ISU das deutsche Team mit einem «Kuhhandel» erpresst hätte. «Entweder meldet ihr Claudia wegen Krankheit ab oder wir sprechen eine Schutzsperre aus», hätte es von ISU-Seite am 7. Februar geheißen, als sie nach dem ersten Tag der Mehrkampf-WM in Hamar erste Informationen über anormale Retikulozyten-Werte erhalten hatte.
Harm Kuipers, Mitglied der Medizinischen ISU-Kommission, bestritt dies. «Ich habe Teamleiter Helge Jasch persönlich das Ergebnis der Nachuntersuchung mitgeteilt. Einen Deal mit ihm kann ich ausschließen», sagte er und machte damit die Wahrheitsfindung noch spannender. Der Teamchef der Deutschen Eisschnellläufer reagiert überrascht auf die Äußerungen von Kuipers. «Wenn das jetzt von der ISU so hingedreht wird, möchte ich erst einmal gar keinen Kommentar abgeben», sagte Jasch der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Zudem kündigte der Teamchef an, dass es eine Pressekonferenz geben werde, bei der die Gesamtzusammenhänge aufgehellt werden sollen. «Das ist im Moment alles sehr verworren, da muss die ganze Sache besser aufgeklärt werden», sagte Jasch.
«Ich bin stinksauer auf die ISU. Ich fühle mich total verarscht», erklärte Pechstein. «Natürlich ist es total blöd, dass ich nicht die Wahrheit sagen konnte. Aber mir wurde ja förmlich die Pistole auf die Brust gesetzt seitens der ISU», behauptete sie. Sie habe Fans und Öffentlichkeit belogen und entschuldige sich dafür, eine Virus- Erkrankung als Grund ihrer Abreise aus Hamar angegeben zu haben.
Ein endgültiges Urteil über ihre angeklagte Mannschafts-Kollegin wollte Team-Olympiasiegerin Daniela Anschütz-Thoms noch nicht abgeben: «Wenn man es nüchtern betrachtet, spricht einiges für Claudia. Ich würde aber für sie nicht die Hand ins Feuer legen.» Richtig empört waren dagegen niederländische Rivalinnen. «Sie ist vom Thron gestürzt. Nichts ist schlimmer, als olympisches Gold an jemand zu verlieren, der später erwischt wird», tobte Renate Groenewold, und 3000-Meter-Olympiasiegerin Ireen Wüst schimpfte: «Falschspieler müssen bloßgestellt werden.»