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Nordsee-Duft in Bad Kissingen
Gradierbau: Freiluftinhalatorium und technisches Museum für die Geschichte der Salzgewinnung zugleich.
Von unserem Redaktionsmitglied Siegfried Farkas
 |  aktualisiert: 27.10.2020 13:25 Uhr

Wenn der Kissinger an die Nordsee will, hat er zwei Möglichkeiten. Er kann es machen wie die meisten anderen auch: sich ins Auto setzen und Richtung Norden fahren. Laut Google Maps darf er dann nach rund 500 Kilometern die Zehen ins kalte Wasser stecken. Er kann aber auch den bequemen Weg wählen und einfach den Gradierbau aufsuchen. Eine kühle Nordseebrise gibt es dort auch. Der Weg dahin ist aber wesentlich kürzer. Vom Kissinger Marktplatz aus gerechnet – ebenfalls laut Google Maps – muss man dafür bloß zweieinhalb Kilometer Richtung Norden zurücklegen.

Das mit der Nordseebrise ist eigentlich nur ein Abfallprodukt von Kissingens langer Geschichte als Ort der Salzgewinnung. Früher hat man in dem eigentümlichen Holzbauwerk nämlich Sole gradiert. Das geht so: Die Sole, das heißt, salzhaltiges Wasser, wird hochgepumpt, um anschließend an Schwarzdornreisig herabzurieseln. Dabei verdunstet Wasser. Der Salzgehalt der Sole steigt und es wird leichter, im Anschluss durch Erhitzen das Salz zu kristallisieren.

Diese Technik hat sich allerdings schon im 19. Jahrhundert überholt. Im Falle Kissingens fielen ein Großteil der Technik zur Salzherstellung der Aufhebung des Salzmonopols 1868 zum Opfer. Zeitweise hatte es bis dahin zwei parallele, insgesamt gut zwei Kilometer lange Gradierwerke gegeben.

Seither hat, wer zum Gradierbau geht, mit Salzgewinnung nicht mehr viel am Hut. Aus technischen Anlagen wurden bald Freiluftinhalatorien. Alte Postkarten zeigen: Der Kurort stellte großzügig Liegestühle auf, und die Gäste ließen sich fast wie am Strand von Norderney zart salzhaltige, beim Herabrieseln mit fein zerstäubtem Wasser angereicherte Luft um die Nase wehen.

Liegestühle hält heute kein eilfertiger Helfer mehr bereit. Und genau genommen ist der Gradierbau heute auch bauhistorisch nur noch ein Schatten seiner selbst. Weil der Zahn der Zeit daran genagt und 1990 ein Sturm kräftig daran gezerrt hatte, wurde der bis dahin noch erhaltene Restbestand zum Teil ersetzt. Turm und Nordflügel sind erneuert. Vom wesentlich längeren Südflügel blieben nur die Fundamente.

Und doch bewegt sich nicht nur an schönen Tagen ein gleichmäßiger Strom von Ruhe und Erholung Suchenden zum Gradierbau. Was die Menschen dort finden, hat mit dem Freiluftinhalatorium von früher nicht mehr viel zu tun. Freilich ist es schön, auf einer der beim Bau der Konstruktion gleich mitgeschaffenen Bänke Platz zu nehmen und ein paar tiefe Züge wassergekühlter Luft zu inhalieren. Und natürlich ist es angenehm, auf den umlaufenden Stegen entlang der Reisigbündel zu spazieren. Doch nachhaltige medizinische Wirkung strebt heute vermutlich keiner mehr an.

Vielleicht liegt der Reiz des Gradierbaus heutzutage ja ganz einfach nur darin, dass man dort so wunderbar aus der Zeit fallen kann. Heraus aus der Hektik unserer Tage. Hinein in einen Rhythmus, den eher das sanfte Plopp der Tropfen im Schwarzdornreisig bestimmt.

Auch wenn das Holzbauwerk in seinem heutigen Bestand nur schwerlich als Denkmal durchgeht – im Bad-Kissingen-Band der Reihe Denkmäler in Bayern steht es noch. Und das zu Recht. Es ist und bleibt ein Zeuge der Vergangenheit Kissingens als Salzstadt und als Weltbad. Ein Stück Technikgeschichte, das viel zu erzählen hat. Wenn man ihm denn zuhört.

Mit etwas gutem Willen kann man den Kissinger Norden auch als eine Art historisches Gegenstück zu den prachtvollen Kur- anlagen im Herzen der Stadt betrachten. Selbst wenn dieses Gegenstück insgesamt nicht so schön saniert ist wie Regentenbau, Arkadenbau und Wandelhalle.

Denn der Gradierbau ist ja beileibe kein Solitär. Ringsherum um den Holzbau findet sich viel historisches Metall. Da wäre etwa ein eindrucksvolles Kolbenpumpwerk aus dem Jahre 1848, das im Freien aufgestellt ist. Es diente einst unter anderem dazu, Sole in die Hochbehälter der Gradierwerke zu heben. Gleich nebenan steht unter Dach in einem kleinen Fachwerkhäuschen eine weitere Pumpe. Sie kam 1883 hinzu.

Nur ein paar Schritte weiter liegt die Untere Saline. Mit weiteren zugehörigen Gebäuden war sie als Gesamtanlage einst zentrales Element der Kissinger Salzgewinnung. Viel zu erkennen gibt sie davon heute jedoch nicht mehr. Die aus dem späten 18. Jahrhundert stammende Dreiflügelanlage mit Pavillons dämmert ohne zeitgemäßen Nutzen vor sich hin.

Wer ein bisschen über die Salzgewinnung früherer Jahrhunderte in Bad Kissingen erfahren will, muss noch ein paar Hundert Meter weiter gen Norden wandern. Ins Museum Obere Saline. Dazu gehört auch eine kleine Abteilung, die der Salzherstellung gewidmet ist.

Historisches Altmetall findet der geneigte Betrachter auch südlich des Gradierbaus, unweit der alten Freipumpe. Dort haben die Kissinger 1877 dem Reichsgründer Otto von Bismarck, ihrem Eisernen Kurgast, das erste Bismarck-Denkmal Deutschlands errichtet. Ein Vergnügen war ihm das nicht. Im Gegenteil. Angeblich, so heißt es in Kissingen, hat er sein Abbild nie gesehen. Bismarck selbst soll gesagt haben, ihn störe, „wenn ich gewissermaßen fossil neben mir dastehe“. Er wisse gar nicht, „mit welchem Gesicht ich an meiner Statue vorbeigehen sollte“.

Ob Bismarck den Gradierbau als Freiluftinhalatorium genutzt hat, ist nicht dokumentiert. Gut getan hätte ihm der regelmäßige Besuch bestimmt. Denn der Eiserne Kanzler hatte nicht gerade eine eiserne Gesundheit. Und ein bisschen hypochondrisch, schreiben die Biografen, war er auch.

Erschienen als Folge 79 der Serie 111 Dinge, die Sie in Mainfranken tun müssen.

Früher viel größer: Als der Gradierbau noch der Salzgewinnung diente, waren zwei parallel verlaufende Anlagen gut zwei Kilometer lang.
Foto: Siegfried Farkas (3), Isolde Krapf. | Früher viel größer: Als der Gradierbau noch der Salzgewinnung diente, waren zwei parallel verlaufende Anlagen gut zwei Kilometer lang.
In die Jahre gekommen: Die historische Pumpanlage.
| In die Jahre gekommen: Die historische Pumpanlage.
Gradieren: Sole rieselt über Schwarzdorn.
| Gradieren: Sole rieselt über Schwarzdorn.
 
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