Was sehen wir?“ Die Lieblingsfrage von Dieter Stockmann. Er stellt sie im waldreichen Grenzgebiet zwischen Spessart und Rhön, und die, die ihn begleiten, sehen erst mal nur Bäume und Erdwälle, Äste und Moos. Aber dann öffnet ihnen Stockmann die Augen, indem er sagt, was er sieht und weiß. Und beantwortet die Frage schließlich, obwohl jetzt längst allen klar ist: „Wir stehen mitten auf der Autobahn.“
Es ist die „vergessene“ Reichsautobahn, die vom Wald überwucherte „Strecke 46“ aus der Zeit des Nationalsozialismus, über die auch „Spiegel“ und „Süddeutsche“ ausgiebig berichteten. Dass sie nicht ganz in Vergessenheit geriet, die längste Autobahnruine unter Denkmalschutz, das garantiert Dieter Stockmann mit Vorträgen und einem Buch über die „Strecke 46“. Der Leiter der Unteren Naturschutzbehörde im Landratsamt Main-Spessart wird nicht aufhören mit seiner Erinnerungsarbeit, solange er laufen und erklären und die Frage stellen kann: Was sehen wir?
Es ist ein Samstag, und zwölf Personen suchen nach Antworten. Sie sind Dieter Stockmanns Einladung zu einer von insgesamt fünf Führungen im Laufe des Jahres 2011 gefolgt, die Termine sind auf der Homepage www.strecke46.de zu finden. Motto der Touren: Mit dem Wanderstock über die Autobahn.
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Natürlich kann jedermann auf eigene Faust losmarschieren hier oben auf beziehungsweise neben der spärlich befahrenen Hochstraße, die von Gräfendorf beziehungsweise Burgsinn nach Roßbach und Rupboden führt. Ist man mit einem GPS-Gerät ausgestattet, gelingt das Auffinden der Relikte des Autobahnbaus anhand der Positionsdaten (siehe Grafik) mühelos. Na ja, andernfalls gerät die Suche zur spannend-fröhlichen Expedition – angemessene Kleidung, festes Schuhwerk und ein wenig Ausdauer vorausgesetzt.
Die Geschichte der Pfeiler, halb fertigen Brücken und Straßenüberführungen, die scheinbar sinnlos herumstehen in Wiese und Wald zwischen den Tälern von Sinn und Saale, findet man im Internet oder in Stockmanns Buch. Wer das Terrain auf eigene Faust erkundet, muss allerdings darauf verzichten, Stockmanns umfassendes Detailwissen über die„Strecke 46“ abfragen zu können.
Das Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Autobahngeschichte (www.autobahngeschichte.de) ist ein wandelndes Lexikon des Fernstraßenbaus. Noch bevor er mit dem Zwölfertrupp im Schlepptau losmarschiert, räumt Hobbyhistoriker Stockmann mit dem Mythos auf, bei den frühen Autobahnen habe es sich um „Straßen des Führers“ gehandelt. Die Planungen für das deutsche Autobahnnetz begannen nämlich schon Jahre vor der Nazi-Diktatur.
An der Strecke 46 wurde von 1936 bis 1940 gebaut, bei Kriegsbeginn fehlte streckenweise nur noch die Fahrbahndecke. Die Autobahn hätte von Bad Hersfeld über Fulda nach Würzburg durch Wälder und über Täler geführt, vorbei an der Ruine Homburg und der 650 Jahre alten „Steineiche“. Am vor sechs Jahren vom Sturm gefällten mächtigen Stamm erklärt Stockmann, warum die Autobahn die Eiche von beiden Seiten flankieren sollte. Die Ideologie der Nationalsozialisten wollte den „Autowanderer“ nicht etwa schnell von Punkt A nach Punkt B bringen. Der sollte vor allem die Schönheit der deutschen Landschaft „erfahren“.
Nach eineinhalb Stunden Richtung Norden ist Halbzeit einer Tour, die Lustwandeln sein muss verglichen mit der Knochenarbeit beim Autobahnbau jener Tage. Maschinen gab es kaum, also kam Muskelkraft zum Einsatz. Arbeiter wurden selbst in Tschechien angeworben. Stockmann erzählt, dass zeitweise 4500 Mann schufteten auf 20 Kilometer Länge. Sie sprengten Baumstümpfe aus dem Waldboden, buddelten dicke Wurzeln mit dem Spaten aus. Auch größere Erdbewegungen erfolgten meist in Handarbeit. Felsbrocken mussten mühsam mit Hammer und Meißel zerkleinert werden, bevor sie wegtransportiert werden konnten. Stockmann erzählt, dass ein Arbeiter für den Gegenwert von 33 Liter Benzin drei Tage hart arbeiten musste. Dafür war die Verpflegung an den Baustellen nicht schlecht: „Die haben Bier gesoffen ohne Ende.“
An den Bauwerken gerät Stockmann regelmäßig ins Schwärmen ob der technischen Details und ihres guten Zustands nach mehr als 70 Jahren. Fast alle größeren Bauwerke wurden extra mit Steinen aus der Region verblendet. Die „Straßen des Führers“, wie sie die Nazi-Propaganda den „Volksgenossen“ anpries, sollten sich harmonisch in die „deutsche Landschaft“ einfügen, zahlreiche Raststellen und auch Zeltplätze sollten entstehen. Der Krieg vereitelte die „Strecke 46“, später wurden die Pläne verworfen zu Gunsten der A 7, die weiter östlich gebaut wurde, um Schweinfurt besser anbinden zu können.
Traurig reagiert Stockmann, wenn er gefragt wird, warum sich bis heute kein Träger gefunden hat, der die „Strecke 46“ zum Lehrpfad für Technik- und Sozialgeschichte macht. Überlegungen gab es, auch ein Museum für Autobahngeschichte ließe sich bestücken. Indes schritt niemand zur Tat, weil Kommunalpolitiker fürchteten, Neonazis könnten zu den Relikten aus der Nazi-Zeit marschieren.
Immerhin soll es demnächst einen Flyer zur Strecke 46 geben, finanziert von den Gemeinden Burgsinn und Gräfendorf. Dann gibt es noch Dieter Stockmanns Führungen. Und schließlich Menschen mit Entdeckergeist und Expeditionsdrang, die keine ausgetretenen Pfade brauchen.
Anfahrt: Anfahrt mit dem Auto über Burgsinn/Sinntal oder über Gemünden ins Saaletal. Bei Schonderfeld vorbei am markanten Brückenpfeiler der Strecke 46, in Gräfendorf den Berg hinauf in Richtung Burgsinn bzw. Roßbach. Entlang der Hochstraße gibt es ausgeschilderte Parkplätze (z. B. „Bettlersruh“), von wo aus man in relativ ebenem Gelände die Bauwerke der Strecke 46 erkunden kann.
Gesamtlänge: Von Rupboden im Sinntal bis Gräfendorf im Saaletal rund 24 Kilometer. Von den Parkplätzen entlang der Hochstraße aus beliebig lange Touren möglich.
Einkehrmöglichkeiten: In Gräfendorf und Burgsinn mehrere Gasthäuser. Etwas weiter entfernt das „Schwarze Ross“ im Zeitlofser Ortsteil Eckarts (Sinntal).
Führungen: Weitere Führungen der Reihe „Mit dem Wanderstock über die Autobahn“ am 26. Juni, 11. September und 9. Oktober. Anmeldung bei Dieter Stockmann erforderlich unter Tel. (09 31) 95 02 43 ab 18 Uhr.