Und es erstaunt mich immer wieder, wie Autoren früherer Zeiten den Alltag beschrieben haben, mit dem wir uns heute herumschlagen müssen. So geschehen im „Handorakel“ Balthasar Gracians. In dreihundert kurzen Lebensregeln erklärt der spanische Philosoph und Schriftsteller „Die Kunst der Weltklugheit“. Erstmals erschienen ist das Büchlein im Jahre 1647, 1862 hat es Arthur Schopenhauer ins Deutsche übersetzt, eine Arbeit, die noch heute als Meisterleistung gelobt wird. In Regel Nummer 28 also schreibt Gracian visionär über die mittlerweile inflationäre Fernseh-Suche (Casting genannt) nach Leuten, die sich vor einem mehr oder weniger großen Publikum der Lächerlichkeit preisgeben wollen. Kluge Menschen mache es nämlich betroffen, wenn ihre Sache der Menge gefiel. Denn: „Gemeiner Beifall in Fülle befriedigt den Verständigen keineswegs.“ Doch es geht leider auch anders: „Manche sind allerdings wahre Chamäleoe der Popularität; sie gedeihen nicht unter dem Anhauch Apollos (klug, weise, d.A.), sondern unter dem stinkenden Atem des Pöbels.“ Da hat man doch gleich ein paar Beispiele vor Augen. Kein Vergnügen solle man an der Bewunderung durch die breite Masse finden, denn deren Unwissenheit komme nicht über das Staunen hinaus: „Während die allgemeine Dummheit bewundert, deckt der Verstand des einzelnen den Trug auf.“ Erschienen ist das „Handorakel“ damals unter dem Pseudonym Lorenzo Gracian, herausgegeben wurde es von einem Freund. Gracian versuchte so, Schwierigkeiten bei der Druckerlaubnis (Imprimatur) aus dem Weg zu gehen. Seine Schrift kollidierte doch sehr mit der kirchlichen Morallehre der damaligen Zeit. Und Gracian war seit 1619 im Jesuitenorden, 1635 wurde er zum Priester geweiht. Ein bisschen Vorsicht konnte da nicht schaden.
Meine Lektüre & ich: Die Kunst der Weltklugkeit
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