zurück
WÜRZBURG
Mehr als ein lästiger Maulkorb
Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 16.12.2020 11:40 Uhr

2005 war Schluss: Der Sozialhilfeausschuss des Bezirks Unterfranken wurde abgeschafft, seither gibt es nur noch einen Sozialausschuss. Das klingt nicht weiter dramatisch, hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Bis vor zehn Jahren konnten sich Vertreter von Wohlfahrtsverbänden bei den Ausschusssitzungen jederzeit zu Wort melden. Heute müssen sie, bevor die Beratungen beginnen, zu sämtlichen Tagesordnungspunkten en bloc Stellung nehmen.

Das bedeutet, dass die Wohlfahrtsverbände, ohne die weiteren Diskussionen zu kennen, ihre Argumente zu meist mehr als 20 Tagesordnungspunkten auf einmal einbringen müssen. Sie legen also im Vorfeld der Beratungen ihre Überlegungen zu so unterschiedlichen Themen wie offener Behindertenarbeit, Aidsberatung, der Situation in den Werkstätten für Behinderte, dem Behindertenfahrdienst und der Suchtberatung im Bezirk dar. Danach haben sie einen Maulkorb – auch wenn es sinnvoll wäre, wenn ihr Sachverstand bei den Diskussionen einfließen würde.

Der Bezirk selbst ist an diesem Maulkorb nicht schuld. Das 2005 reformierte Bayerische Ausführungsgesetz zum Sozialhilfegesetzbuch sah dies so vor. Damit ist die gemeinsame Sozialplanung von Staat und Wohlfahrtsverbänden und in diesem Zusammenhang auch die Beteiligung von Bürgern stark beschnitten. Eben dies merkte auch vor zehn Jahren, als der Bezirkstag über die Reform diskutierte, CSU-Bezirksrat Peter Motsch kritisch an.

Zu den bis heute schärfsten Kritikern der Abschaffung des Sozialhilfeausschusses gehört Jochen Keßler-Rosa, Sprecher der Wohlfahrtsverbände in Unterfranken. „Die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände zu beschränken auf vorbereitende Gespräche und ein Rederecht vor dem Einstieg in die 'eigentliche' Tagesordnung empfand ich von Anfang an als Herabstufung und mangelnde Bereitschaft zum öffentlichen Austausch“, sagt er. Weil Unterfrankens Sozialexperten kein Rederecht bei den Diskussionen mehr haben, könnten aktuelle Erkenntnisse aus der Praxis nicht immer im richtigen Moment einbezogen werden.

„Wir müssen vorher quasi darüber spekulieren, was in der Diskussion vorgetragen werden wird“, rügt der Vorstand des Diakonischen Werks Schweinfurt. Zwar seien hin und wieder, außerhalb der Regel, „Zwischenrufe“ erlaubt: „Doch das ersetzt nicht eine faire Argumentation oder, noch wichtiger, auch mal eine Richtigstellung.“

Um den fachlichen Austausch zu garantieren, führte der Bezirk nach 2005 zwei neue, allerdings nichtöffentliche Gremien ein: den Planungs- und Koordinierungsausschuss (PKA) sowie die Arbeitsgruppe Behindertenarbeit. „Hier kann man unter Fachleuten diskutieren“, erklärt AWO-Bezirksgeschäftsführer Martin Ulses. Seit drei Jahren gehört er dem Sozialausschuss als beratendes Mitglied an. Die Zeit, als es möglich war, dass ein AWO-Mann während der Sitzung seine Meinung kundtat, kennt er nicht. „Das Ganze wäre natürlich mehr auf Augenhöhe, könnte man sich zu Wort melden“, bestätigt Ulses.

Auch Kathrin Speck, Bezirksgeschäftsführerin des Paritätischen, sieht die Abschaffung der verbindlichen Beteiligung der Wohlfahrtsverbände nach wie vor kritisch: „Unsere Rolle besteht insbesondere in der sozialpolitischen Interessenvertretung für benachteiligte Menschen in unserer Gesellschaft.“ Eben diese blieben durch den „Maulkorb“ ein Stück weit auf der Strecke.

Die Änderung betraf im Übrigen nicht nur den Sozialhilfeausschuss des Bezirks, sondern alle Sozialausschüsse in den Kommunen. Speck: „Gerade in den Landkreisen findet teilweise überhaupt keine Beteiligung der Wohlfahrtsverbände in den Sozialausschüssen mehr statt.“

Die Kappung des Mitspracherechts ist im Übrigen umso verwunderlicher, als die Bedeutung des Bezirks als Sozialhilfeträger wächst. Was an blanken Zahlen abzulesen ist. 2005 gab der Bezirk erst 277 Millionen für Soziales aus. Heuer werden es 365 Millionen Euro sein – ein knappes Drittel mehr.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Frauenland
Pat Christ
Aids-Beratung
Mitspracherecht
Sozialexperten
Unterfranken
Wohlfahrtsverbände
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen