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HEIDINGSFELD
Liebeserklärung an Heidingsfeld
Idyll: Im Jahr 1909 malte Peter Böhler diese Ansicht von Heidingsfeld mit der alten Stadtmauer.
Foto: Hetzfelder Flößerzunft | Idyll: Im Jahr 1909 malte Peter Böhler diese Ansicht von Heidingsfeld mit der alten Stadtmauer.
Von unserem Redaktionsmitglied Roland Flade
 |  aktualisiert: 16.12.2020 11:49 Uhr

Ein pensionierter Lehrer aus Schleswig-Holstein hat ein Wochenende im Städtle verbracht und in einem Buch darüber berichtet. Aus anfänglicher Skepsis wurde Zuneigung.

Was haben Würzburg, Koblenz, Düsseldorf und Eisenhüttenstadt gemeinsam? Sie alle haben sich im Lauf ihres Wachstums eine kleine mittelalterliche Stadt in ihrer Nähe einverleibt.

Haben die in den Schatten geratenen Städtchen wie das 1930 nach Würzburg eingemeindete Heidingsfeld mit dem Verlust ihrer politischen Eigenständigkeit auch ihre Individualität verloren? Das fragte sich Klaus Künzel, Jahrgang 1946 und pensionierter Gymnasiallehrer für Geografie und Mathematik aus Schleswig-Holstein, und reiste in zehn einst selbstständige Städte.

„Was er entdeckte, ist so alltäglich wie überraschend“, heißt es – sehr zutreffend – im Werbetext für sein Buch „Verschluckte Städte“, das kürzlich erschienen ist. Überall traf er auf reiche Geschichte, auf Zeichen von Zerstörung und Aufbau, oft auf Spuren Prominenter ihrer Zeit. Und überall begegnete er Menschen, denen das eigenständige Profil ihrer kleinen Stadt wichtig ist.

Sein liebevolles Buch erweckt im Leser den Wunsch, Orte wie Fürstenberg, einen Stadtteil von Eisenhüttenstadt, oder Höchst, das jetzt zu Frankfurt gehört, oder Köpenick in Berlin zu entdecken – oder eben Heidingsfeld, das man als Würzburger doch längst zu kennen glaubt.

„Phönix ohne Schmuckgefieder“ heißt der 25-seitige Beitrag über das Städtle. „Phönix“, weil Heidingsfeld nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wieder auferstanden ist. „Ohne Schmuckgefieder“, weil die Schönheit des alten Städtle nicht mitauferstehen konnte.

Der Autor kennt sich am Main aus, er liebt die Städtchen und Dörfer, in denen sich „der Zauber einer gelungenen Synthese des Lieblichen aus Landschaft und Kunst“ entfaltet. Nichts davon findet er bei der Ankunft an einem Samstag im Oktober 2012 in Heidingsfeld. Da weiß er noch nicht, dass er bei der Abreise sein Reiseziel in den höchsten Tönen als „echt authentisch“ loben wird, als Gegenmodell zum trendigen Sommerhausen mit seinen schicken Restaurants.

Doch zuerst muss Klaus Künzel eine Durststrecke überwinden. Die Läden sind schon geschlossen, nüchterne Nachkriegsbauten prägen das Stadtbild. Mit seiner Frau geht er durch „schmucklose menschenleere Straßen“, die Begleiterin schaut ihn vorwurfsvoll an: Wie kann man nur auf die Idee kommen, hierher zu fahren? „Sollen wir das Programm abbrechen?“, steht als Frage im Raum.

Künzel lässt sich vom ersten Eindruck nicht abschrecken. Beim Bummel kommt er in die schlichte Laurentiuskirche und erlebt die erste faustdicke Überraschung. Sein Blick geht zum Hochaltar: „Der leidende Christus am Kreuz noch über Maria und Johannes zwingt alle Aufmerksamkeit mit einer eindringlichen Intensität zu sich hinauf, die große Meisterschaft verrät. Keinem Geringeren als Tilman Riemenschneider wird das Werk zugeschrieben, das vor der Bombardierung rechtzeitig ausgelagert werden konnte.“ Klaus Künzel ist erstaunt: „Riemenschneider im schlichten Heidingsfeld, mit ihm hatten wir hier am wenigsten gerechnet.“

Der Pädagoge Künzel hätte auch einen guten Reporter abgegeben. Er lässt sich treiben, freut sich über unerwartete Entdeckungen und knüpft schnell Kontakte mit den Einheimischen, von denen er sich berichten lässt, was in einem Reiseführer stünde, wenn es denn für Heidingsfeld einen gäbe.

„Mit Riemenschneider hatten wir im schlichten Heidingsfeld am wenigsten gerechnet.“

Klaus Künzel, Buchautor

Am nächsten Tag ist Erntedanksonntag. Künzel und seine Frau sitzen in der Laurentiuskirche, Fahnenträger kommen herein, Kinder führen ein kleines Theaterstück auf, die Weinprinzessin („eine attraktive junge Frau in einem trachtenähnlichen blauen Kleid“) übernimmt eine Textlesung. Die Begeisterung des Gastes aus dem hohen Norden wächst: „Spielerische Freude und zeremonielle Würde lösen sich zwanglos ab.“

Das Paar besucht auch die evangelische Kirche Sankt Paul außerhalb des Mauerrings, die am 16. März 1945 von Bomben verschont blieb, und den jüdischen Friedhof an der Eisenbahn mit fast 1000 Grabsteinen. Künzel schiebt einen sachkundigen Exkurs ein über die einst bedeutsame jüdische Gemeinde des Städtle und ihre prächtige spätbarocke Synagoge von 1780, eine der schönsten Deutschlands, die im November 1938 niedergebrannt wurde.

Im „Banater Heimathaus“ am Ostbahnhof, das eigentlich geschlossen ist, erhalten er und seine Frau eine spontane Privatführung. Das Gebäude ist über alle Stockwerke angefüllt mit Erinnerungsstücken der Banater Schwaben. Künzel betrachtet fasziniert Karten, Zeittafeln, ein Dorfmodell und viele alte Fotos – und über 100 Trachtenpuppenpaare in fast halber Menschengröße.

Ein Aushang lockt die Besucher in eine Heckenwirtschaft. „In der kleinen Gaststube haben wir keine Chance, uns abseits zu setzen und werden sofort von der mitteilsamen Wirtin und den Tischnachbarn vereinnahmt“, schreibt Künzel. Das Gespräch kommt auf den in Heidingsfeld angebauten Wein, es gibt angemachten Camembert und ein Viertele Silvaner. Künzel: „Ich komme mir vor wie irgendwo im fränkischen Weinland, nur nicht wie in der Großstadt Würzburg.“

Am Montag, kurz vor der Abfahrt, öffnen die Läden, und mit einem Mal ist alles anders. Einkaufende Passanten und parkplatzsuchende Autofahrer teilen sich die Straße. Der Autor will die fast 700 Seiten dicke „Geschichte der Stadt Heidingsfeld“ erwerben und erfährt, dass es das Buch beim Installateur zu kaufen gibt. „Wie bitte, Installateur?“ fragt er verwundert. Der ist im Vorstand der Bürgervereinigung, erfährt er, und die hat das Buch herausgegeben.

„Das Geschichtswerk im Sanitärladen“, schreibt Künzel. „Kann man ein stärkeres Symbol dafür finden, wie Heidingsfeld tickt? Für das Urbedürfnis, sein Dasein aus seiner Vergangenheit zu erklären?“

Wieder zu Hause bringt Künzel den Besuch auf folgenden Nenner: „Zum Freilichtmuseum taugt dieser Ort ganz und gar nicht. Er verbirgt sein Gesicht und täuscht den flüchtigen Besucher mit falschen Signalen, die ihn leicht verprellen können.“ Aber: Heidingsfeld „hat bei aller Nähe zur Großstadt der Versuchung widerstanden, seinen Charakter preiszugeben. Man braucht schon ein paar Tage, dazu zu erkennen.“

Ein einziges Manko hat das äußerst lesenswerte Buch: Es gibt nur wenige aussagekräftige Fotos. Daher haben wir die Illustrationen auf dieser Seite aus anderen Quellen zusammengesucht. Aber Klaus Künzel will ja, dass der Leser den dringenden Wunsch verspürt, alles mit eigenen Augen zu sehen. Das ist ihm glänzend gelungen.

Info: Klaus Künzel, Verschluckte Städte. Zehn Spaziergänge durch ganz besondere Stadtteile, 292 Seiten, tredition GmbH, Hamburg, ISBN 978-3-8491-8363-9. Das Banater Heimathaus, Am Ostbahnhof 20, ist sonntags von 14 bis 17 Uhr und für Gruppen nach Vereinbarung auch samstags geöffnet. Kontakt: Tel. (09 31) 6 66 73 03 (Katharina Haidt), Internet www. wetschehausen.com/heimathaus.htm. Vertiefte Information: Rainer Leng (Hrsg.), Die Geschichte der Stadt Heidingsfeld, 695 Seiten, Verlag Schnell & Steiner GmbH, Regensburg

Kruzifix: Der Bild der Christusfigur von Tilman Riemenschneider in der Laurentiuskirche entnahmen wir der „Geschichte der Stadt Heidingsfeld“.
| Kruzifix: Der Bild der Christusfigur von Tilman Riemenschneider in der Laurentiuskirche entnahmen wir der „Geschichte der Stadt Heidingsfeld“.
Trachtenpracht: Zum 20-jährigen Jubiläum des Banater Heimathauses trugen Mädchen historische Gewänder.
Foto: ArchivTheresa Müller | Trachtenpracht: Zum 20-jährigen Jubiläum des Banater Heimathauses trugen Mädchen historische Gewänder.
Reiselust: Aus dem Städtchen Preetz bei Kiel kam Klaus Künzel nach Heidingsfeld und in neun andere „verschluckte Städte“.
Foto: Privat | Reiselust: Aus dem Städtchen Preetz bei Kiel kam Klaus Künzel nach Heidingsfeld und in neun andere „verschluckte Städte“.
 
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