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WÜRZBURG
Knochen wie Kreide
Irgendwann hat Gerald Brandt aufgehört, seine Brüche zu zählen. Sie können sowieso nicht mehr verheilen. Bei jeder Bewegung überlegt der Würzburger, ob die Knochen halten. Jede Bewegung kann den nächsten Bruch bedeuten. Und neue Schmerzen.
Von unserem Redaktionsmitglied Alice NAtter
 |  aktualisiert: 26.04.2023 10:38 Uhr

Die Oma war die Erste, die etwas merkte. Sechs Monate war Gerald Brandt alt, als seine Großmutter sagte: „Irgendetwas stimmt nicht mit dem Jungen.“ Der Enkel wollte einfach nicht aufhören zu schreien, konnte die Beine nicht ausstrecken, hatte einen verformten Schädel. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte eine Rachitis, Kalziummangel, und gaben dem Säugling hohe Dosen Vitamin D.

Genau das Falsche für den kleinen Patienten. Nach Monaten in der Klinik und Dutzenden Untersuchungen stellten die Mediziner irgendwann den richtigen Befund: Gerald Brandt fehlt die alkalische Phosphatase. Der Enzymkomplex, der für den Stoffwechsel der Knochen so wichtig ist, gibt der seltenen angeborenen Krankheit den schier unaussprechlichen Namen: Hypophosphatasie (HPP).

Spät fing der kleine Junge an zu laufen. Mit drei Jahren wurde Brandt das erste Mal operiert, weil die Knochen so weich waren und sich die Unterschenkel verformt hatten. „Die betroffenen Kinder entwickeln einen eigenen Gang“, sagt Brandt heute. Dem Dreijährigen fielen schon die Milchzähne aus, oft war ihm schlecht, nie hatte er Appetit. Die Ärzte legten die Beine monatelang in Gips. Kaum war der ab, formten sich die Beine wieder zum X.

Irgendwann begannen die Mediziner, Metallschienen an den Beinen festzuschrauben, die Glieder in Geh-Apparate zu zwängen – Gift für das empfindliche Skelett. Die meisten orthopädischen und chirurgischen Eingriffe bis Mitte der 80er Jahre seien „eher experimenteller Art“ gewesen, sagt Gerald Brandt. Das Abitur schaffte er trotz Krankenhaus-Karriere, trotz Kindheit in Gips.

Das Tückische der Hypophosphatasie sei, dass sie in den verschiedensten Lebensaltern mit den unterschiedlichsten Symptomen auftreten kann. Starke Schmerzen, ausgefallene Zähne, Nierensteine, Arthrose, Lungenentzündungen, Muskelschwäche, ständige Übelkeit, schwere Osteoporose. Weil die Schädelnähte früh verknöchern, kommt es bei einigen der betroffenen Kleinkinder zu einem Überdruck im Gehirn, dann muss auch am Kopf operiert werden. „Die Diagnose ist schwierig, wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss“, sagt der 37-Jährige. Und die Erkrankung ist extrem selten, zehn Mal seltener noch als Mukoviszidose: Auf 100 000 Geburten kommt ein Fall.

Gerald Brandt überlegt es sich zweimal, bevor er jemandem die Hand gibt. Ein fester Druck kann zu viel sein für die spröden Knochen, jede Bewegung kann den nächsten Bruch bedeuten. Die Wasserflasche auf dem Tisch lässt er stehen. Zu schwer für die Unterarme. Fenster öffnen? „Schwierig.“ Überhaupt die ganz alltäglichen Dinge. „Ohne Familie und Partnerin ginge gar nichts.“

Dabei hatte alles ganz gut ausgesehen: Nach dem 18. Geburtstag war die Hypophosphatasie allmählich zum Stillstand gekommen. Gerald Brandt studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Texter, Herausgeber und Redakteur. Kurz nach dem Magister, „ging's wieder los“: Übelkeit, Schmerzen, Appetitlosigkeit, kaputte Nieren wegen der vielen Medikamente. Und immer wieder Ermüdungsbrüche in Füßen und Beinen.

Seine Knochen sind wie Kreide: „Jedes Mal, wenn ich niese, muss ich damit rechnen, dass eine Rippe bricht.“ Er hat mittlerweile ein Gefühl dafür, ob etwas gebrochen ist oder nur gestaucht. Den Adrenalinschub im Körper nach der Fraktur, „kann man mit ein bisschen Übung spüren“. Seit drei Jahren sind die Schlüsselbeine durch und verschoben, sie verheilen nicht mehr. Um Kopfsteinpflaster macht er mit dem Rollstuhl einen großen Bogen: „Ist nicht witzig mit gebrochenem Rückenwirbel“. Am meisten schmerzt den Würzburger, der gerne Musiker geworden wäre, dass er nicht mehr Gitarre spielen kann. Die Knochen seiner linken Hand geben nach.

Rund 800 Menschen in Deutschland sind von Hypophosphatasie betroffen, schätzt der Mediziner Professor Hermann Girschick. „Aber es gibt eine hohe Dunkelziffer, bekannt ist nur ein kleiner Teil.“ Auch deshalb hat Gerald Brandt vor zwei Jahren einen Verein gegründet. Als Anlaufstelle für die Betroffenen, als Forum, wo die Familien Erfahrungen austauschen können. Und um die Erforschung der Krankheit voran zu bringen. Hermann Girschick von der Kinderklinik der Uni Würzburg gilt als „der“ Experte für Hypophosphatasie in Deutschland. Professor Franz Jakob vom König-Ludwig-Haus, führendes Mitglied des Dachverbandes Osteologie, beschäftigt sich mit der seltenen Erkrankung. Und auch der Parodontologe Professor Ulrich Schlagenhauf aus der Zahnklinik betreut HPP-Patienten. „Wir haben in Würzburg eine einmalige Dichte von Spezialisten“, sagt Brandt. Er träumt von einem nationalen Referenzzentrum. Und von einer großen Datenbank, um mehr Erkenntnisse über die Krankheit gewinnen zu können.

Hoffnung auf Heilung gibt es – noch – nicht. Bis heute wissen die Mediziner nicht genau, wie sich die Krankheit genau entwickelt und welche Rolle die alkalische Phosphatase im menschlichen Organismus spielt. „Jede Betreuung ist offiziell ein Heilversuch“, sagt Girschick. Doch eigentlich sei es nur ein „individueller Betreuungsversuch“. Rund 30 Patienten hat er in den vergangenen Jahren gesehen. Jeder Fall ergänzt das Bild: „Wir lernen bei diesen Patienten, wie Entzündung und Schmerz am Bewegungsapparat funktionieren“. Der Leidensdruck der Betroffen sei enorm, sagt der Mediziner. Und fügt an: „Wir stoßen an unsere Grenzen“.

Gerald Brandt hat gelernt, mit den Grenzen zu leben. Übers Internet pflegt er Kontakt mit dem französischen Partnerverein, tauscht sich aus mit Patienten aus den USA und Kanada. Hilft anderen. Versucht, die Schmerzen auszuhalten. Und sagt: „Man sollte nicht vergessen, dass jeder Tag ein Geschenk ist.“

Stichwort

Hypophosphatasie Die Hypophosphatasie ist eine extrem seltene angeborene Erkrankung des Knochenstoffwechsels. Betroffen ist einer von 100 000 Menschen. Viele Menschen tragen die Anlagen für HPP in sich, ohne selbst je daran zu erkranken. Mehr Infos im Internet: www.hpp-ev.de

Knochen wie Kreide
Foto: FOTO DPA
 
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