
Wo doch bereits der „Album des Jahres“-Grammy, den Arcade Fire 2011 für den „Reflektor“-Vorgänger „The Suburbs“ bekamen, die sechs Musiker felsenfest im Kreis der Höchstliga-Bands verankerte.
„Der Grammy hat uns innerhalb der Mainstream-Welt legitimiert“, sagt Parry, während er in der Garderobe der Sendung „Circus Halligalli“ auf seinen Auftritt wartet. „Viele stellen sich einfach nur deshalb an irgendeiner Warteschlange an, weil sie denken, dass es dort garantiert etwas Tolles gibt. Der Grammy war unsere Schlange. Wahrscheinlich hätte den Leuten das Album auch ohne Grammy-Auszeichnung gefallen, aber so sagten sie sich: 'Aha, muss ja großartig sein, besorge ich mir.'“
Narrenfreiheit dank Grammy
Parry selbst komme aus einer „Familie nerdiger Subkulturfreunde“, der Vater spielte in einer Folkband, die Mutter ist Dichterin, die Schwester Singer/Songwriterin. Er nimmt zuweilen Soloplatten auf, die „von vielleicht 500 Leuten“ gekauft würden, „aber jetzt sind wir eben hier hineingeraten und wollen das Beste daraus machen.“ Doch trotz allem sei der Grammy ein freudiges Ereignis gewesen, unterm Strich mehr Befreiung und Bestätigung als Belastung. „Die Entscheidung, auf dem neuen Album etwas ganz anderes zu machen, ist uns dadurch noch leichter gefallen. Wir hatten eine gewisse Narrenfreiheit“, sagt er.
Arcade Fire wollten sich austoben, und das tun sie auch auf „Reflektor“. Sowieso haben sie bisher auf jedem Album überraschende Haken geschlagen, seit sie 2004 ihr Debüt „Funeral“ veröffentlichten, das vom Musikmagazin „Rolling Stone“ später als „Bestes Album der Nullerjahre“ bezeichnet wurde. Alle waren begeistert von diesem verspielten bis krachenden Konzeptwerk, das sich um den Verlust nahestehender Menschen drehte.
Drei Jahre danach kehrten Arcade Fire mit „Neon Bible“ zurück, einem monumentalen, etwas stärker rockbetonten, von warm klingenden Blasinstrumenten geprägten und in einer Kirche aufgenommenen Album. Weitere drei Jahre später kam „The Suburbs“ – auf der Platte gaben sich Arcade Fire viel Mühe, die Lieder, es fällt einem kein passenderes Wort ein, besonders schön zu machen. Die Kompositionen waren eher zurückhaltend, der Vortrag nicht selten sparsam bis akustisch. Und wieder nach drei Jahren, also jetzt, machen Arcade Fire Karneval. „Reflektor“ ist die bisher tanzbarste, am fröhlichsten klingende, basslastigste, poppigste, rhythmischste und auch längste Platte der Kanadier. Der erste Funke für den neuen Sound zündete vor gut zwei Jahren bei zwei Konzerten in Haiti, dem von Naturkatastrophen geplagten und politisch instabilen Heimatland von Chassagnes Eltern. „Es war ein fantastisches Abenteuer. Wir traten vor Menschen auf, die noch nie zuvor einen Verstärker oder eine elektrische Gitarre gesehen hatten“, erzählt Parry.
Inspiriert vom Sound der Karibik
Die tief bewegten Musiker begannen, den Sound der Karibik eingehender zu erforschen, sie begaben sich auch nach Trinidad und nach Jamaika, nach und nach entwickelten sich Songs und Klangbild für das neue Album. „Wir haben uns von dem rhythmischen und stilistischen Füllhorn der Region inspirieren lassen. Reggae war ein großer Einfluss für die neuen Lieder, auch Calypso oder afrikanischer Funk. Das alles waren die Steine für das Haus, das wir dann bauten.“
Co-Architekt von „Reflektor“ ist James Murphy, der befreundete Kopf von LCD Soundsystem. „‘Reflektor‘ ist fraglos unsere körperlichste Platte“, so Parry, der einst Zeitgenössischen Tanz studierte und sich mit solchen Dingen auskennt. „Die Musik lädt zum Tanzen ein, und man muss sie nicht analysieren – selbst wenn wir das natürlich oft und ausschweifend tun.“
Als „freudig erregt“ beschreibt der 36-jährige Musiker den Grundton der neuen Stücke, die hier und da an die Talking Heads („Here comes the night time“) oder sogar an Michael Jackson ( „We exist“) denken lassen. „Als Kind fand ich Michael Jackson einzigartig, ich habe ihn vergöttert. Wenn du alle Mitglieder von Arcade Fire auf der Tanzfläche sehen willst, dann musst du nur „Don’t stop til you get enough“ oder „Billy Jean“ auflegen.“
Im Titelsong wiederum hat David Bowie einen kurzen Auftritt. Glücklich klinge das Album aller Lebenslust zum Trotz natürlich dennoch nicht, insistiert Parry. Dazu sind auch die Texte wieder viel zu dunkel und morbide. „Der Karneval selbst ist eine Feier, die auf Totenverehrung und Todesfurcht basiert“, sagt er.
Arcade-Fire-Konzerte freilich gehen derzeit eher in Richtung Lady Gaga. Für ihre bisherigen kleineren Shows gab die Band einen Dresscode aus, man musste entweder verkleidet oder festlich angezogen sein, sonst kam man nicht rein. Auch bei den demnächst anstehenden großen Shows vor 10 000 Menschen und mehr wolle man versuchen, an dem Konzept festzuhalten. „Wer sich verkleidet, stellt klar, dass er das Konzert genießen will, Zynismus und verschränkte Arme haben keine Chance. Auch für uns auf der Bühne ist es noch viel geiler, wenn die Leute alle auf Party gepolt sind.“