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Intelligenter durch Pillen?
Hirndoping Für manche ist der Griff in die Pillendose eine verlockend einfache Methode, um sich in eine mentale Höchstform zu bringen. Suchtmediziner wie Jobst Böning warnen jedoch vor dem Doping von Gehirn und Geist.
Pillen       -  Geschäft mit der Krankheit: Laut einer Studie verdienen Geschäftsführer in der Pharmaindustrie am meisten.
| Geschäft mit der Krankheit: Laut einer Studie verdienen Geschäftsführer in der Pharmaindustrie am meisten.
Von unserem Redaktionsmitglied Christine Jeske
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:39 Uhr

Die Rolling Stones machten sie vor fast 50 Jahren zum Hit: die kleinen gelben Pillen alias „Mother's Little Helper“. Noch heute ist die Bezeichnung „Mutters kleine Helfer“ die Umschreibung für den Arzneistoff Diazepam aus der Gruppe der Benzodiazepine. Bekannter ist er unter seinem Handelsnamen Valium und soll nicht nur ängstlichen und depressiven, sondern – laut Liedtext – auch „nicht wirklich“ Kranken durch einen arbeitsreichen Tag helfen.

Der Gedanke erscheint reizvoll: Wer konzentrierter und schlauer und damit erfolgreicher, glücklicher und selbstbewusster durchs Leben kommen möchte, sucht sich einfach die passenden Helfer in Tablettenform aus. Hirndoping heißt das Schlagwort, der Kick für den Geist, an dem sich die Geister scheiden. Denn es handelt sich bei den „Happy-Pills“ oder „Smart-Drugs“ – so werden die „kleinen Helfer“ heute gerne bezeichnet – ebenfalls um Medikamente, die von gesunden Menschen zweckentfremdet werden, um bestimmte Funktionen des Gehirns über das normale Maß hinaus zu verbessern.

Dazu zählen neben dem altbekannten Valium auch bestimmte Antidepressiva und Psychostimulanzien, beispielsweise das Modafinil, das bei Narkolepsie angewendet wird, und das Methylphenidat (Handelsname Ritalin), das bei der ADHS-Therapie zum Einsatz kommt; darüber hinaus Antidementiva, die bei der Alzheimer-Demenz und bei Parkinson verschrieben werden, zudem Beta-Rezeptoren-Blocker, die eigentlich für Menschen mit Herzinsuffizienz oder Angststörungen entwickelt wurden. Die Einnahme dieser Medikamente soll wahre Wunder bewirken: die Müdigkeit wegblasen, die Konzentration erhöhen, das Gedächtnis in Höchstform bringen, die Nervosität bekämpfen, die Stimmung aufhellen, die emotionale und soziale Kompetenz erhöhen – eine Strategie, die von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) kritisch beurteilt wird.

Die DHS grenzt vom Begriff Hirndoping noch eine weitere Methode ab: das Neuro- oder Cognitive Enhancement (englisch: to enhance, aufwerten, mehren). Hirndoping im engeren Sinne bezieht sich laut DHS auf die Einnahme von chemischen Substanzen ohne medizinische Indikation. Bei Neuro-Enhancement werden neben Psychopharmaka zusätzlich Neurotechnologien eingesetzt: Gehirnchips, Gehirnimplantate, Gehirnstimulation durch Magnetfelder, Ultraschall oder Neuroprothesen. Neuro-Enhancement ist somit nicht so einfach anwendbar wie Hirndoping, schreibt die DHS in einem Positionspapier. Mitautor ist Professor Jobst Böning aus Würzburg.

Als Ursache für Hirndoping sehen die Experten der DHS die durch Technisierung und Globalisierung immer komplexer gewordene Lebenswelt. Was heute zählt, ist Wissen, Kreativität, Aktivität, Flexibilität und Anpassungsvermögen. Müßiggang ist in der Leistungsgesellschaft verpönt. „Die Anforderungen führen immer mehr zu psychosozialen und kognitiven Belastungen bei Schülern und Studenten, aber auch im Arbeitsalltag“, sagt Böning. Für den Psychiater, der an der Universität Würzburg die Suchtforschung aufgebaut hat, ist Hirndoping Medikamentenmissbrauch, der zu psychischer und körperlicher Abhängigkeit führen kann.

Der Einsatz von psychoaktiven Substanzen mit dem Ziel, bewusstseinserweiternde Zustände zu erreichen, ist allerdings keine junge Modeerscheinung, sondern so alt wie die Menschheit. Neu sei jedoch, dass bei pharmakogenem Hirndoping „keine dämpfende oder euphorisierende Wirkung oder veränderte Realitätswahrnehmung beabsichtigt ist.“ Vielmehr stünde dort im Vordergrund, „Anpassungen an reale oder subjektiv empfundene Anforderungen zu bewirken“, beschreibt Professor Böning den Trend, der auf „einer ganz wesentlich anthropologischen Wurzel süchtigen Verhaltens beruht: dem Wunsch, körperliche und psychische Befindlichkeitsmanipulation ohne jede Anstrengung frei Haus zu bekommen“. Hirndoping erscheint als leichte Möglichkeit, auch das psychische und soziale Wohlbefinden und die optimale Kontaktfähigkeit in einer von Konkurrenz geprägten Arbeitswelt zu verbessern. Was vielen nicht bekannt ist: Unerwünschte Nebenwirkungen bleiben nicht aus, sagt Böning.

Befürworter von Hirndoping betonen dagegen die ihrer Ansicht nach bestehenden Vorteile. Sie fragen, was daran wohl schlecht sei, die Errungenschaften der Medizin zu nutzen, um beispielsweise vor Prüfungen oder wichtigen Konferenzen den geistigen Motor über Stunden am Laufen zu halten. Sie sprechen von Chancengleichheit durch die Optimierung von Gehirn und Geist und dem Recht, über persönliches Wohlergehen sowie Körper und Psyche selbst zu bestimmen.

Die Anwendung von Hirndoping und Neuro-Enhancement wird bereits seit einigen Jahren von Medizinethikern kontrovers diskutiert. Jobst Böning gibt zwar zu bedenken, dass sich nicht einfach alles verbieten ließe, wovon Menschen psychisch abhängig werden könnten. „Jeder sollte sich jedoch vor der Entscheidung überlegen, was persönliches Wohlbefinden ausmacht und wie es um seine Gesundheitskompetenz bestellt ist.“ Doping sei kein Rettungsschirm für ein gelingendes Leben.

Untersuchungen zeigen bereits deutlich, dass etlichen Menschen legale Stoffe wie Traubenzucker, Koffein, Energydrinks, Vitaminpräparate oder rezeptfreie Arzneien auf pflanzlicher Basis nicht mehr genügen, um die Anforderungen des Lebens zu meistern. Das ergab die von Dezember 2010 bis Januar 2011 durchgeführte Befragung des HIS-Instituts für Hochschulforschung in Hannover zu Hirndoping und Medikamentenmissbrauch, an der knapp 8000 Studenten teilnahmen: 70 Prozent gaben an, dass sie jemanden kennen, der Substanzen eingenommen hat mit dem Ziel, die geistige Leistung zu steigern. 17 Prozent der Befragten konnten sich vorstellen, selbst entsprechende Mittel anzuwenden, zwölf Prozent haben bereits eine oder mehrere Substanzen eingenommen, um die Studienanforderungen besser bewältigen zu können. Fünf Prozent betreiben laut HIS-Institut „pharmakologisches Hirndoping und nehmen verschreibungspflichtige Medikamente, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Psychostimulanzien oder Aufputschmittel ein“ – mehr als ein Drittel davon gleichzeitig.

Eine Umfrage der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) unter 3000 Arbeitnehmern zwischen 20 und 50 Jahren ergab unter anderem, dass 0,8 Prozent der Berufstätigen täglich bis mehrmals wöchentlich Arzneimittel zur Leistungssteigerung und Stimmungsaufhellung einnehmen. Hochgerechnet auf die Zahl der Beschäftigten in Deutschland seien es 320 000 Arbeitnehmer.

Diese hohe Bereitschaft für Hirndoping erfordert laut Jobst Böning eine umfassende Aufklärung, wie Psychopharmaka bei gesunden Menschen wirken. „So belegen zum Beispiel alle neueren und wissenschaftlich anerkannten Studien zur Wirksamkeit von bestimmten Antidepressiva, dass derartige Medikamente die Stimmung von gesunden Menschen nicht verbessern.“ Manche Substanzen hätten sogar zu einer Verschlechterung psychischer Eigenschaften wie Aufmerksamkeit und Wachheit geführt, die für die menschliche Leistungsfähigkeit notwendig sind.

Auch die Studien zu Antidementiva lieferten nach Angaben von Professor Böning keine sicheren Belege dafür, dass sie die Gedächtnisleistung bei gesunden Menschen verbessert hätten. „Vielmehr können beide Wirkstoffgruppen bei ihnen unerwünschte Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Unruhe, Appetitlosigkeit und Übelkeit auslösen“, so Böning.

Wer gesund ist, profitiere anderen Untersuchungen zufolge auch nicht von der Einnahme von Psychostimulanzien – im Gegenteil. „Sie wirken nicht nachweislich leistungssteigernd, lediglich das Arbeitsgedächtnis funktioniert kurzfristig besser“, zitiert Bönig die Studienergebnisse. Das reicht jedoch nicht aus, um eine länger anhaltende Aufmerksamkeit zu erzielen.

Es bleibt also bislang ein Wunschtraum, mit Pillen allein sein Gehirn zu optimieren. Hirndoping führt nach diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zu den erwünschten Verbesserungen. Hinzu kommt, dass die durch die Arzneimittel hervorgerufenen Effekte, die zunächst subjektiv als angenehm und entlastend empfunden werden, dazu führen können, dass man sie immer wieder erleben möchte, beschreibt Suchtforscher Böning das Risiko, schnell in eine psychische Abhängigkeit zu geraten. Deshalb rät er „grundsätzlich von der nicht indizierten Einnahme verschreibungspflichtiger Substanzen ab“.

Besser ist es laut Jobst Böning in Studium und Beruf auf bewährte Alternativen zum Hirndoping zu setzen. Dazu zählen ausreichender Schlaf, Gedächtnistrainings, Entspannungsmethoden (autogenes Training, Yoga, Meditation), ein gutes Zeitmanagement, regelmäßige kurze Pausen oder Sport. Das alles steigert die Konzentration, die Belastungsfähigkeit in Stresssituationen und hilft, depressiven Verstimmungen vorzubeugen beziehungsweise zu lindern.

Mehr Informationen und Tipps gibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen: www.dhs.de

 
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