
Es war ein seltsam ungewohnter Geruch, der sich an diesem Samstagvormittag in der Semmelstraße ausbreitete. Es war am 11. November 1989, zwei Tage nach der Öffnung der Berliner Mauer und der deutsch-deutschen Grenze. Und so machten sich auch Menschen aus dem 140 Kilometer entfernten thüringischen Suhl auf den Weg, um ihre bislang für sie unerreichbare Partnerstadt Würzburg zu besuchen.
Schnell war an diesem Tag der Residenzplatz mit Autos der Marken Trabant, Wartburg und anderen DDR-Fabrikaten besetzt. Und in den anderen „Einflugschneisen“ wie Semmel- und Ludwigstraße stauten sich riesige Trabi-Schlangen und verströmten ihre intensiv riechenden Abgase. Wir haben Würzburgerinnen und Würzburger um ihre Erinnerungen an dieses denkwürdige Wochenende gebeten.
Karin Fehrer, Inhaberin des gleichnamigen Cafés in der Herzogenstraße, hat schon vor vielen Jahren einmal ihre Erinnerungen für das 1998 erschienene Main-Post-Buch „Unser Würzburger Jahrhundert“ aufgeschrieben. Jetzt erzählte sie noch einmal davon, wie damals vor ihrem Café DDR-Bürger in ihren Autos übernachtet hätten, um möglichst früh ihre 100 DM Begrüßungsgeld abholen zu können und damit einkaufen zu gehen. Wie immer habe sie das Café schon um sechs Uhr früh geöffnet. Und schnell füllte es sich mit den Besuchern aus dem Osten.
Viele der Gäste hätten vor Freude Tränen vergossen, weil sie so freundlich empfangen wurden. Im Café Fehrer hatte sich unter anderem eine vierköpfige Familie aus Suhl zum Frühstück eingefunden. Als sie bezahlen wollten, hatte dies schon stillschweigend ein Stammgast übernommen. Karin Fehrer selbst beschenkte die mitgereisten Kinder mit einer großen Tüte Süßigkeiten und Plätzchen.
Karin Fehrer erinnert sich auch daran, dass viele caritative Einrichtungen wie die das Mutterhaus der Erlöserschwestern, die Kantine des bischöflichen Ordinariats, das Kilianeum, die katholische Hochschulgemeinde und viele mehr spontan öffneten, um die Gäste zu verpflegen. Polizei und Johanniter hatten am Greinberg Posten bezogen, um die ankommenden Autos auf die Großparkplätze zu leiten, weiß Karin Fehrer noch.
Auf einem dieser Plätze, dem Residenzplatz, hatte auch Klaus Koch, sein Auto abgestellt. Der Außendienstmitarbeiter des Strumpfherstellers Falke, hatte in seinem Kofferraum immer ein große Menge von Produkten seiner Firma geladen, die er normalerweise an die Verkäuferinnen in den besuchten Geschäften verteilte. Angesichts der vielen Gäste aus der DDR öffnete er kurzerhand seinen Kofferraum und verschenkte die begehrten Textilien, die im Osten nicht erhältlich waren. „Viele Beschenkte vielen mir vor Freude um den Hals“, erinnert er sich.
Ulrike und Werner Eckart aus Bergtheim verbindet seit der Grenzöffnung eine enge Freundschaft mit einem Ehepaar aus der damaligen DDR. Die Eckarts folgten damals einem öffentlichen Aufruf, am Wochenende des 11./12. November Übernachtungsmöglichkeiten für Besucher aus der DDR zur Verfügung zu stellen. So lernten sie ein Ehepaar aus Suhl kennen, mit dem sie sich noch heute regelmäßig treffen.
Ganz andere Erinnerungen hat der Würzburger Peter G. Schäfer. Er war am 9. November nach Hongkong geflogen und sah dort im Fernsehen die Bilder vom Fall der Mauer, den Ton dazu verstand er natürlich nicht. Die Bilder von Menschen, die mit allen möglichen Werkzeugen auf die Berliner Mauer einschlugen, „jagten mir zunächst riesige Angst ein“, blickt er zurück: „Wir wussten ja nicht, ob da gerade irgend etwas eskaliert“. Erst langsam verstand er, was sich fernab in der Heimat abspielte und dass es keinen Anlass zur Sorge gab.
Von einer Familienzusammenführung der besonderen Art berichtet Andre Kölbel. Er floh bereits im Juli 1989 als 18-Jähriger über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik. Er wohnte in Höchberg. Erst einen Tag nach der Maueröffnung erfuhr er davon von seinem Vermieter, der ihm auch mitteilte, dass seine Eltern auf dem Weg zu ihm seien. Die Wohnung am Hexenbruch war nicht leicht zu finden, also hängte er ein großes Tuch mit seinem Namen vor das Haus. Im dichten Nebel suchte er nach den Eltern, als er plötzlich einen Dacia hörte und entdeckte, der gerade abdrehte. Er pfiff durch die Finger, der Dacia drehte um und die Familie war wieder zusammen.
Natürlich ging man gemeinsam in die Stadt, die inzwischen von Ossis und Wessis bevölkert war. Dort trafen die Kölbels auf einen fremden Mann: „Ich nehme an , dass Sie aus dem Osten kommen. Darf ich Ihnen 550 Mark schenken?“, fragte er die Kölbels, für die dies ein Erlebnis war, das sie bis heute nicht vergessen haben.
Völlig überrascht von den Besuchern aus dem Osten waren zwei Tage nach der Maueröffnung allerdings die Würzburger Geschäftsleute. Denn angesichts der verstopften Straßen, dauerte die Fahrt von Suhl nach Würzburg oft viele Stunden. Wer nach 14 Uhr kam, hatte Pech, da waren in Würzburg die Geschäfte nämlich schon geschlossen, wie dies damals am Samstag üblich war. Viele der etwa 1800 Besucher aus dem Osten, die sich an diesem Wochenende ihre 100 Mark „Bargeldhilfe“ abholten, war es dennoch ein unvergessliches Erlebnis.
Eine Woche später, als rund 4000 Ostbürger nach Würzburg kamen, hatten sich dann auch viele Geschäftsleute darauf eingestellt und ihre Ladengeschäfte bis zum Abend geöffnet.