Eine Legende wird von Ort zu Ort ein wenig anders erzählt. Die Version von Edgar Weinmann, dem ehemaligen Vorsitzenden des Grünsfelder Kulturvereins, lautet so: Ein Riese, der einst bei der heiligen Lioba in Tauberbischofsheim gelebt hat, wirft einen Hammer. Wo er aufschlägt, sollte eine Kirche erbaut werden. Der Hammer landet in Grünsfeldhausen (Ortsteil von Grünsfeld). Durch die Wucht des Aufpralls bleibt der Hammer jedoch nicht liegen, sondern fliegt weiter ostwärts bis nach Oberwittighausen. Dort dreht er leicht die Richtung und fällt in Gaurettersheim endgültig zu Boden. In dieser Ortschaft wird die Geschichte genau andersherum erzählt.
Egal, von wo aus der Riese seinen Hammer geschleudert haben soll: Es ist eine schöne Mär über besondere spätromanische Kirchenbauten, die nur einen Hammerwurf weit voneinander entfernt sind. Zwei der achteckigen „Riesenkirchen“ stehen noch: die Achatiuskapelle in Grünsfeldhausen und die Sigismundkapelle in Oberwittighausen. Die Kapelle in Gaurettersheim wurde im 19. Jahrhundert abgerissen.
Nichts mit der Hammerwurflegende zu tun hat die ebenfalls achteckige Ulrichskapelle in Standorf bei Creglingen. Als ihr Erbauer gilt Konrad von Hohenlohe-Brauneck, Parteigänger des Stauferkaisers Friedrich II. und Kreuzritter. Er wird auch mit der Kunigundenkapelle südlich von Aub in Verbindung gebracht, in der das Turiner Grabtuch aufbewahrt worden sein soll.
Auch um die Ulrichskapelle ranken sich Grabtuch- und andere Geschichten. Davon will Pfarrer Thomas Burk nichts hören. „Die Ulrichskapelle ist ein Ort, wo man Geborgenheit erlebt und zur Ruhe kommt, ein gesegneter Ort, der dazu einlädt, die Gegenwart Gottes zu spüren“, betont er nachdrücklich und fügt hinzu: „Wir suchen hier nicht die Kraft der drei Adern, sondern die Kraft Gottes.“ Die Vehemenz, mit der Pfarrer Burk seine Worte formuliert, hat einen Grund. In der Kirche soll es zu esoterischen Umtrieben gekommen sein. Wünschelrutengänger seien ein- und ausgegangen. Vor zwei Jahren kam es in der kleinen Kirchengemeinde deshalb zum Eklat. Das evangelische Gotteshaus wurde geschlossen. Thomas Burk kam einige Monate später nach Creglingen und versucht bis heute, die Wogen zu glätten.
Seit einigen Monaten sind wieder Besichtigungen möglich. Ein Kirchengemeinderatsmitglied, das über viele Jahre die Schlüsselgewalt hatte, darf keine Führungen mehr anbieten. Womöglich könnten sonst wieder unliebsame Dinge zur Sprache kommen. Beispielsweise die Kraftquellen, die sich unter der mächtigen Holzsäule in der Kirche kreuzen sollen; oder die Geschichte vom Turiner Grabtuch, das einst in der Kapelle versteckt worden sei, als es in der Kunigundenkapelle nicht mehr sicher gewesen sein soll; oder die Deutung der Steinplatte vor dem Altar, auf der ein Scheibenkreuz abgebildet ist, als Bauhüttenmaß.
Teilweise abstrus anmutende Geschichten können nur dort entstehen, wo schriftliche Hinweise fehlen. Interpretationen aufgrund einer blühenden Fantasie tun ihr Übriges. Mit der Grabtuchlegende rückte das kleine, abgelegene Dorf plötzlich ins Zentrum der Weltgeschichte, und das war für so manchen äußerst faszinierend, mutmaßt Pfarrer Burk. Vor dem Genuss des Wassers der angeblich bei Augenleiden helfenden Ulrichsquelle, die unterhalb der Kirche noch sprudelt, warnt der Kirchenmann sogar. Sie fließe unter dem Friedhof hindurch.
Allgemein gelten Kreuzritter aus dem Landadel als Bauherren der Oktogonkapellen. Als Dank dafür, dass sie unversehrt vom Heiligen Land in ihre Heimat zurückgekehrt sind, haben sie die Kirchen errichtet, heißt es. Als Vorbild der Achteckanlagen wird die Grabeskirche in Jerusalem angesehen. Möglich ist, dass die Zahl Acht eine Rolle gespielt hat: Sie gilt als heilig und ist ein Symbol für die Wiedergeburt, Erneuerung oder Herrschaft sowie für die Taufe und damit für das ewige Leben und die Vollkommenheit.
Es kann jedoch passieren, dass man bei einer Besichtigung der Oktogone auf andere Besucher trifft, die eine weitere Theorie vertreten. Wie der Professor, der extra aus Wien angereist ist, um sich die Achteckanlagen anzusehen. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass es sich bei den Oktogonen um Templerkirchen handelt. „Es gibt eindeutige Zeichen“, sagt er und zeigt an der Fassade der Achatiuskapelle auf ein Tatzen-Kreuz mit sich verbreiternden Balkenenden, auch Templerkreuz genannt. Auch in der Ulrichskapelle sei er fündig geworden. Die rechteckige Platte mit Hügelkreuz sei ein typischer Grabstein der Templer. Warum ist das nicht bekannt? Weil bei der gewaltsamen Zerschlagung des Ordens ab 1312 auch alle Hinweise auf die Tempelritter unterdrückt worden seien, antwortet er.
Die Sigismundkapelle wurde wegen des geheimnisvollen Portals einige Zeit als ältestes Oktogon angesehen. Früheste Angaben nennen als Baubeginn die Zeit um 1150. Allgemein wird die Entstehungszeit jedoch eher um 1220/30 vermutet, wie bei den anderen Oktogonen auch. Mesnerin Ingrid Seubert hütet den Schlüssel und kennt jedes Detail der Sigismundkapelle in- und auswendig. Sie wurde wahrscheinlich an der Stelle eines keltischen Quellheiligtums errichtet, sagt sie. Zwar sprudelt die Quelle heute nicht mehr, ganz versiegt sei sie aber nicht. Der mächtige Baum neben der Kapelle ist für Ingrid Seubert der Beweis. „Eine Linde gedeiht nur so gut, wenn sie Wasser hat.“
Rätselhafte Wesen gibt es am plastisch verzierten Portal zu sehen: zum Beispiel Drachen, Wellen, einen Wassermann, darüber eine Nixe mit Schuppenkleid, ein Krokodil, Sterne, einen kopflosen Bischof, einen Pilger, ein löwenähnliches Tier mit Menschenkopf und gleich zweimal der Gehörnte. Die Linien, die Paragrafen-Zeichen ähneln, seien keltische Spiralen, erzählt Ingrid Seubert. Eine Kunsthistorikerin habe ihr erzählt, dass dieses Ornament in Irland und Nordengland häufig vorkomme und ein Symbol für Ewigkeit sei. Auch die Besucher der Sigismundkapelle haben oftmals ihre eigenen Erklärungen. „Da erlebt man die tollsten Sachen.“ Eine Erklärung sei, dass die Anordnung der Steine am Portal durcheinandergeraten ist. „Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Kapelle stark zerstört.“
Auch im Inneren gibt es Ungereimtheiten. Dazu gehört die Grabplatte, die heute aufrecht an der Wand steht. Die in den Stein geritzte Darstellung eines Mannes wirkt wie eine Karikatur. Er trägt eine Kutte mit fast bodenlanger Kapuze. Der Mund steht seltsam offen, wirkt verzerrt. Ist es ein Mönch? Oder ist es womöglich doch der Tempelritter namens André de Joinville, der einst das Turiner Grabtuch gestohlen hat und zur Strafe als Einsiedler in der Sigismundkapelle gelebt hat? Das sind Vermutungen der Freunde des Turiner Grabtuchs, sagt die Mesnerin.
Mit einem Fragezeichen versehen ist auch die Tatsache, dass das Gewölbe, das im 19. Jahrhundert unter der einst seitlich neben einem Pfeiler gelegenen Grabplatte zum Vorschein kam, bis heute nicht geöffnet wurde. Auch nicht bei der bislang letzten Renovierung vor gut 40 Jahren, wundert sich Ingrid Seubert. „Damals wäre es einfach gewesen.“ Der wuchtige zentrale Turmeinbau im Zentrum der Sigismundkapelle ist das nächste Rätsel. Er wird mal als orientalisch-romanisch, mal als gotisch, vor allem aber als ein den Raum störendes Element angesehen. Einen Störfaktor gab es auch im Inneren der Achatiuskapelle in Grünsfeldhausen – eine Steinsäule.
Die Kapelle ist ein Doppeloktogon, sowohl der Kirchenraum als auch der kleine Chor mit kostbarer romanischer Deckenmalerei sind achteckig. Im Gegensatz zu den anderen Oktogonkirchen befindet sich St. Achatius nicht auf einer Anhöhe, sondern im Tal. Der Grünbach umfließt die Kapelle in einer eckigen Bahn.
Deshalb erlebte die Kirche mehrere Überschwemmungen und steckte lange Zeit bis zur Hälfte im Schlamm. In den Jahren 1903 bis 1908 wurde sie ausgegraben und das ursprüngliche Portal rekonstruiert. Aufgrund dieser Maßnahme steht die Kirche heute in einem an die vier Meter tiefen Kessel.
Auch bei der Achatiuskapelle wird angenommen, dass sie auf einem Quellheiligtum steht. Ein keltischer Opferstein, ein „Näpfchenstein“, ist in der Fassade eingemauert. Wasser hatte für die Kelten eine besondere Bedeutung bei den Kulthandlungen, sagt Edgar Weinmann, der jahrzehntelang Besucher durch die Kapelle geführt hat und in entscheidenden Momenten an Ort und Stelle war. Als zum Beispiel die Stufen zum Chor entfernt werden sollten, schritt er ein. Ansonsten wäre das Raumkonzept zerstört worden. „Die Stufen versinnbildlichen den Berg Golgatha“, so Weinmann, die biblische Schädelstätte, auf der Jesus Christus gekreuzigt wurde.
Als die Achatiuskapelle vor gut einem Jahrhundert vom Schlamm befreit wurde, kam die bereits erwähnte achteckige Säule zum Vorschein. Nicht jeder im Ort war davon angetan, erzählt Edgar Weinmann. „In der Nacht zum Karfreitag 1919 wurde sie von Männern aus Grünsfeldhausen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus der Kirche entfernt.“ Sie hätten irrtümlicherweise gedacht, es sei ein Heidenaltar. Dabei war die Säule „ein elementarer Bestandteil der Kirche“, sagt Weinmann. Sie stand im Zentrum des Oktogons. Heute steht die Säule stark verkürzt neben der Kapelle. Sie wird von einer Madonnenfigur bekrönt.
Auch die Säule aus Eichenholz in der Standorfer Ulrichskapelle wird mit heidnischen Gebräuchen in Verbindung gebracht. Sie wurde als Irminsul gedeutet – als der Weltenbaum in der germanischen Mythologie. Nach einem dendrochronologischen (griech. dendron = Baum) Gutachten soll das Holz mal vor 800, mal vor 1000 Jahren gefällt worden sein. In dem einen Fall wäre die Säule so alt wie die Kapelle, in dem anderen Fall 200 Jahre älter: Ein Beweis, dass sich einst ein heidnischer Kultplatz hoch über Standorf befunden hat?
Nach Pfarrer Burk gibt es nur ein seriöses wissenschaftliches Gutachten von der Universität Stuttgart, das die Säule auf 800 Jahre datiert. Auch die Vermutung, dass sich in einem Hohlraum unter der Ulrichskapelle das Turiner Grabtuch befunden haben soll, wischt Burk als Hirngespinst vom Tisch: „Die Legende gibt es erst seit wenigen Jahren und hat sich eine einzelne Person ausgedacht.“ Alles, was über die romanische Kirche gesagt werden könne, stehe im Faltblatt. Es liegt in der Ulrichskapelle aus. „Offizielle“ Angaben werden jedoch kaum die Sehnsucht nach mystischen Geheimnissen zum Verschwinden bringen.
Im Blickpunkt
Die Ulrichskapelle in Standorf oberhalb von Creglingen kann nach vorheriger Anmeldung und in Begleitung des evangelischen Pfarrers Thomas Burk, Tel. (0 79 33) 508, oder des Land- und Gastwirts Richard Preininger (Gasthaus „Zur Sonne“) in Standorf, % (0 79 33) 595, besichtigt werden. Die zentrale Holzsäule in der Ulrichskapelle in Standorf soll bereits der Mittelpunkt eines heidnischen Vorgängerbaus gewesen sein. Man sagt, sie sei 1000 Jahre alt und damit 200 Jahre älter als die romanische Kapelle selbst.
Die Achatiuskapelle befindet sich wenige Kilometer nördlich von Grünsfeld im Ortsteil Grünsfeldhausen und ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Führungen bietet Christel Nowak an. Kontakt: Tel. (0 79 31) 37 35. Anfragen nimmt auch die Stadtverwaltung Grünsfeld entgegen.
Die Sigismundkapelle liegt oberhalb des zu Wittighausen gehörenden Ortsteils Oberwittighausen. Den Schlüssel gibt es bei Ingrid Seubert. Die Mesnerin bietet Führungen an. Kontakt: Kapellenberg 13, Tel. (0 93 47) 423. Kreuzritter sollen die Oktogonkapellen einst errichtet haben – als Dank für ihre glückliche Heimkehr aus dem Heiligen Land.
Die geheimnisvollen achteckigen Sakralbauten befinden sich alle im Main-Tauber-Kreis.