Pünktchen ist aufgeregt. Irgendetwas tut sich an diesem Aprilmorgen auf dem Hof von Schäfer Josef Kolb. Normalerweise sind nur der Schäfer und seine Frau Zita da, doch heute sind Kinder aus den umliegenden Dörfern gekommen. Pünktchen blökt neugierig und schüttelt den schwarzen wolligen Kopf. Und siehe da, das kleine Lämmchen darf aus seinem Stall und mit den Kindern spielen und die Gegend erkunden. Wobei, so klein ist Pünktchen auch nicht mehr. Wie die meisten Rhönschaflämmer ist es bereits zwischen Dezember und Januar im Stall zur Welt gekommen.
Bis zu 350 Lämmer kommen jedes Jahr auf dem ökologisch bewirtschafteten Hof von Josef Kolb zur Welt. Vor 27 Jahren wagte man an solche Zahlen kaum zu denken. Das Rhönschaf stand kurz vor dem Aussterben. Nur wenige Tiere waren von einer der ältesten Nutztierrassen Deutschlands übrig geblieben. Es sah nicht gut aus für Pünktchens Vorfahren. Was aber dann geschah, kann man durchaus als eine Rhöner Erfolgsgeschichte bezeichnen.
Mit dem Erwerb einer 39-köpfigen Herde durch den Bund Naturschutz fing alles an. Nur – wohin mit den seltenen Schafen? Glücklicherweise fand die kleine Herde zunächst Unterschlupf bei Josef Kolbs Vater. Als Weideflächen boten sich die Gassenwiesen oberhalb des Rhöndörfchens Ginolfs (Lkr. Rhön-Grabfeld) an, die der Bund Naturschutz wegen ihrer wertvollen Pflanzenbestände ebenfalls erworben hatte.
Und was niemand erwartet hätte, nahm seinen Lauf: Unter den tatkräftigen Händen von Josef Kolb vermehrten sich die Schafe prächtig! In Zusammenarbeit mit dem Bund Naturschutz wurden über die Jahre hinweg neue Weideflächen und Ställe finanziert, das Rhönschafprojekt entwickelte sich zu einem Vorzeigeprojekt für Artenrettung und Umweltschutz. Heute ist das Rhönschaf nicht nur wegen seines charakteristischen Äußeren, sondern auch wegen seines schmackhaften Fleischs Sympathieträger für eine ganze Region.
Pünktchen hat mittlerweile Gesellschaft von zwei blutjungen Lämmern bekommen. Die beiden sind Nachzügler und gerade mal drei Tage alt. Zita Kolb erzählt, dass die beiden neben der Muttermilch drei- bis viermal am Tag die Flasche bekommen, da die Mutter nicht genug Milch produziert. Laut blökend rennen die Kleinen auf ihren staksigen Beinen umher. Von Angst keine Spur, lieber lassen sie sich von den Kindern streicheln.
Sobald ein Lämmchen geboren ist, wird es von der Mutter gründlich trocken geschleckt. Das hat enorme Bedeutung für die Bindung, erklärt der Schäfer. Die Mutter nimmt den charakteristischen Geruch ihres Kindes auf und erhält gleichzeitig nach der kräftezehrenden Geburt Eiweiß. Die erste Milch, die sogenannte Biestmilch, ist wiederum für das Neugeborene wichtig, da sie das Immunsystem stärkt und reich an Wachstumsfaktoren und Vitaminen ist. Bereits eine halbe Stunde nach der Geburt sind die Kleinen dann schon auf den Beinen und bereit, die Welt zu erkunden.
Ab und zu kommt es jedoch vor, dass ein Mutterschaf das Lamm nicht annimmt. „Normalerweise erkennt die Mutter ihr Lamm am Geruch und an der Stimme. Draußen ist das kein Problem, nur im Stall riechen die Schafe alle sehr ähnlich. Lammen dann im Winter mehrere Schafe gleichzeitig, kann es sein, dass die Mutter ihr Kind verwechselt oder vergisst“, erklärt Josef Kolb. Um dem Geruchswirrwarr vorzubeugen, wird der Stall belüftet, Mutterschafe und Lämmer werden in separaten Boxen untergebracht. Die „mutterlosen“ Lämmchen werden dann mit der Flasche aufgezogen.
Auch Pünktchen ist ein Flaschenkind und Schäfer Kolb gegenüber auffällig zutraulich. Eigentlich vermeidet es der Landwirt, den Schafen Namen zu geben. Mit sechs bis elf Monaten geht es ja für die meisten von ihnen zur Schlachtbank. Aber bei den Flaschenlämmchen macht er auch mal eine Ausnahme, und so kam Pünktchen wegen seines großen schwarzen Flecks am Rücken zu seinem Namensprivileg.
Die achtjährige Marie Hergenhan aus Weißbach ist ganz vernarrt in die Lämmchen: „Ich finde die Rhönschafe einfach schön! Am liebsten hätte ich auch so ein kleines Lamm bei mir zuhause!“ Der sechsjährige Max Siepermann aus Sondernau hat im Gegensatz zu Marie tatsächlich ein Lamm zuhause. Das merkt man, denn der Kleine mit der Bayern-München-Kappe geht mit den Tieren ruhig und besonnen um. Er und Marie haben die beiden Lämmchen vorsichtig in ihren Schoß gebettet. Maries Lamm hält ganz still und beginnt hingebungsvoll an ihren Fingern zu saugen: „Das kitzelt!“, lacht das Mädchen. Auch ihr großer Bruder Jonas (11) ist ein Fan der Rhönschafe und hat sogar ein Referat in der Schule über sie gehalten.
Kinder und Lämmchen tollen auf den Gängen des neuen Stalls umher, der im Winter erbaut wurde. Im Februar war alles fertig: Der Neubau ist hell, luftig und bietet genügend Platz für ein gutes Dutzend Rhönschafgruppen, die jeweils bis zu 60 Tiere fassen. Als die Kinder zu einer Gruppe in den Stall klettern, weichen die Tiere erstmal zurück. „Bleibt einfach ruhig stehen und wartet.“, rät Kolb. „Die Viecher sind neugierig, die kommen von selbst!“ Und tatsächlich, nach kurzer Zeit sind die Kinder von Schafen umringt.
Für diejenigen, die Kolbs Rhönschafe einmal aus nächster Nähe betrachten wollen, bietet der Schäfer Führungen an. Die Besucher dürfen selbst mit anpacken beim Füttern oder Stall ausmisten, damit sie den Alltag auf dem Hof hautnah erleben können. Streicheleinheiten für die Schafe natürlich mit inbegriffen.
Der gelernte Landwirt steht jetzt vor dem Gatter einer besonders laut blökenden Gruppe: „Das ist die junge Generation, die kommen dieses Jahr zum ersten Mal raus in die Herde. Es ist jedes Jahr spannend zu sehen, wie sich die jungen Wilden integrieren. Schafe sind in dieser Hinsicht wirklich unberechenbar.“ Sobald das Wetter wärmer ist und die Wiesen gut wachsen, geht es für die Tiere raus auf die Weide.
Als der Schäfer ruft, hören eigentlich alle Schafe. Nur manche tanzen am Anfang etwas aus der Reihe, sagt Kolb . „Das Wichtigste ist es, den Tieren klar zu machen, wer der Chef ist. Und zwar von Anfang an. Haben die Schafe mich, die Hunde und den Elektrozaun akzeptiert, gibt es kaum noch Probleme.“ Außerdem ist Josef Kolb überzeugt, dass sich gute Pflege auszahlt. Ein Schaf sei nun mal keine Maschine, sondern ein lebendiges Wesen. Wird es im Stall gut versorgt und ist Menschen gegenüber zutraulich, wird es draußen nicht zum Problemschaf. Respekt und Harmonie seien Garanten für erfolgreiches Herdenmanagement. „Wies nei schreit, schreits naus!“
An dieser Philosophie scheint etwas dran zu sein, denn es läuft gut für den Schäfer und seine Schafe. Mittlerweile ist er mit ausgewählten Zuchtschafen auch auf Messen vertreten, wo die alte Nutztierrasse punktet.
Ein weiterer Erfolgsfaktor: Die Einzigartigkeit der Rasse. Die Rhönschafe sind in der Rhön zuhause und ernähren sich seit Jahrhunderten von dem, was auf den Hängen und Wiesen wächst. Sie sind aufgrund ihres Äußeren unverwechselbar. Sie repräsentieren die Rhön nicht nur, sie sind ein Teil von ihr. Vielleicht ist das „Produkt Rhönschaf“ deswegen so beliebt und wegen seiner Alleinstellungsmerkmale vor allem rentabel. Und das ist für Kolb als Züchter natürlich auch von Bedeutung, denn wirtschaftliches Denken gehöre eben auch zu seinem Beruf, sagt er.
Ein Beruf, der ihn erfüllt. Die Arbeit mit den Tieren mache ihm einfach Spaß, jedes Jahr von Neuem. Als Schäfer lebt er mit den Zyklen seiner Schafe – Geburt, Aufzucht und Tod. Die Natur und die Jahreszeiten geben den Takt vor und er halte sich daran: „Natürlich wiederholen sich die Abläufe, aber gleich sind sie nie. Man kann die Natur nun mal nicht steuern. Wenn ich die Stalltür öffne, weiß ich nie, was mich erwartet. Genau das macht meinen Beruf so abwechslungsreich; es ist zwar alles geregelt, aber doch immer wieder neu.“ Gelassenheit scheint das Zauberwort zu sein, denn das ist es, was Josef Kolb im Umgang mit Mensch und Tier ausstrahlt.
„Eigentlich sind wir auch nichts anderes als ein Betrieb mit 400 Mitarbeitern, drei Vorarbeitern und einem Chef. Nur dass die Schafe die Mitarbeiter sind und die Hunde die Vorarbeiter“, grinst Josef Kolb. Er ist der Chef. Und irgendwo aus dem Stall hört man es zustimmend blöken.