Dem Fahrrad sollte man in Schweinfurt ein Denkmal setzen. Mit dem Fahrrad nämlich fing sie an, die Erfolgsgeschichte einer Stadt, die heute fast so viele Beschäftigte wie Einwohner hat und in der die Metall verarbeitende Zulieferindustrie eine zentrale Rolle spielt. Als diese Erfolgsgeschichte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann, war Schweinfurt noch eine verträumte Kleinstadt, deren Bürger hauptsächlich vom Handel mit Vieh und landwirtschaftlichen Produkten lebten.
Wachgeküsst wurde sie von Philipp Moritz Fischer (1812-1890), einem im heutigen Stadtteil Oberndorf geborenen Tüftler, der das Laufrad des Freiherrn von Drais mit der Erfindung der Tretkurbel zum effektiven Fortbewegungsmittel weiterentwickelte und damit einer Industrie den Weg wies, die Schweinfurt zur Weltgeltung bringen sollte. Das Erfolgsgeheimnis der sich anschließenden Jahrzehnte lässt sich auf eine schlichte Formel bringen: In einer Stadt mit gerade einmal 13 000 Einwohnern kannte unter den kreativen Handwerkern jeder jeden und in vielen Fällen war man familiär oder freundschaftlich miteinander verbunden.
Am Anfang stand also der gelernte Schreiner Philipp Moritz Fischer, der es zum Instrumentenmacher brachte und als solcher in halb Europa unterwegs war. Auf seinen Reisen war es ihm jedoch einfach zu lästig, das Gehrad nach Draisschem Muster mit den Sohlen voranzutreiben und damit, bei aller Anstrengung, nicht so richtig auf Touren zu kommen. Mit der Tretkurbel, die andernorts ziemlich gleichzeitig entwickelt wurde, gelang ihm Mitte der 1850er Jahre eine entscheidende Verbesserung, die lediglich darunter litt, dass die dafür benötigten Kugellager sehr teuer und von minderer Qualität waren.
Das Problem sollte dann sein Sohn Friedrich (1849-1899) lösen. Er betrieb einen Handel mit Nähmaschinen und Fahrrädern und entwickelte um 1890 eine Schleifmaschine, mit der die Kugel in exakter Größe schnell und zu günstigen Preisen hergestellt werden konnte. Das fiel zusammen mit einer stürmisch wachsenden Fahrradnachfrage, die nicht zuletzt auch durch die Erfindung des luftgefüllten Reifens (Dunlop) befördert wurde.
An der Weiterentwicklung der Kugelmühle wirkte ein anderer Schweinfurter Aufsteiger mit, der aus Thüringen stammende Schlosser und Dreher Wilhelm Höpflinger (1853-1928). Im Unfrieden schied er zusammen mit dem vom Untermain stammenden Engelbert Fries (1861-1946) bei Kugelfischer aus und baute mit ihm zusammen eine eigene, sehr erfolgreiche Kugellagerfabrik auf, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg 2000 Mitarbeiter zählte.
Ein anderer Pionier der Schweinfurter Industriegeschichte, Georg Schäfer, wurde 1861 in einfachsten Verhältnissen geboren und eröffnete 1895 eine eigene Schlosserei, die so erfolgreich war, dass er schon 1909 für 600 000 Mark die Firma Fischer, den Kugelfischer, übernehmen konnte. Parallel dazu wurden 1909 in Göteborg die Svenska Kugellagerfabriken (SKF) gegründet, die mit einem von Sven Winguist entwickelten Pendelkugellager sehr schnell auf dem Weltmarkt erfolgreich waren und auch nach Deutschland expandierten. Hier hatte sich die Wälzlagerindustrie zunächst stürmisch entwickelt, durch den Ersten Weltkrieg und die sich anschließende Wirtschaftskrise jedoch einen großen Rückschlag erlitten. 1928 gab es erste Überlegungen zu einer Fusion der überwiegend in Schweinfurt tätigen Unternehmen der Branche. Am 7. September wurden in Berlin unter Mitwirkung von SKF die „Vereinigten Kugellagerfabriken“ (VKF) gegründet, in denen die Lagerbereiche von Fichtel & Sachs und Fries & Höpflinger aufgingen. Kugelfischer blieb selbstständig.
Fichtel & Sachs konzentrierte sich fortan auf den Bau von Fahrzeugteilen und Motoren. Dabei profitierte das Unternehmen von der nun einsetzenden Motorisierung – vor allem der Zweiräder. Der legendäre 98-ccm-Motor wurde bis 1950 so gut wie unverändert 750 000-mal gebaut. Fichtel & Sachs blieb bis in die 1970er Jahre in Familienbesitz, wie Kugelfischer auch. Beide Unternehmen haben vom Boom der 30er Jahre und von den Rüstungsprogrammen des Reiches profitiert. Damit gerieten diese kriegswichtigen Firmen und die Stadt ins Visier der Alliierten. Und so fielen weite Teile in den Jahren 1943 bis 1945 in 15 großen Angriffswellen ihrer Bomber in Schutt und Asche.
Die Familien Sachs und Schäfer zeichneten sich als Unternehmer aus, die ihre Heimatstadt mit großzügigen Stiftungen bedachten. Die Schäfers verbindet man heute noch mit wichtigen sozialen Einrichtungen, Stiftungen und wertvollen Kunstsammlungen. Ernst Sachs hat ein Bad, die heutige Kunsthalle, gestiftet, sein Sohn Willy das schöne nach ihm benannte Stadion.
Unterschiedlicher hätten beide Unternehmerfamilien kaum sein können. Beide waren in Schweinfurts Gesellschaft gut verankert und pflegten die Nähe zu ihren Beschäftigten, im besten patriarchalischen Sinne. Während die Schäfers („Papa Schäfer“) ihren Wohlstand eher zurückhaltend pflegten, waren Ernst Sachs und vor allem sein Sohn, der zeitweise mit der Opel-Tochter Elinor verheiratete Willy (1896-1858), sehr extrovertiert. Mit dem Erwerb von Schloss Mainberg und einer großen Jagd in Oberbayern orientierte sich Ernst Sachs an den Lebensformen des Adels.
Im Dritten Reich galt Kugelfischer als nationalsozialistischer Musterbetrieb, ausgezeichnet mit der „Goldenen Fahne“. Während sich Willy Sachs mit Hitler und Göring gerne öffentlich und in Uniform zeigte und als Förderer der Partei galt – in der Biografie Wilfried Rotts wird er jedoch als eher politisch unbedarft geschildert –, gibt es zu Georg und Otto Schäfer und deren Wirken im Dritten Reich wenige Zeugnisse. Ihr Vater, der Geheimrat, war 1925 gestorben.
Nach dem Krieg wurden in den Fabriken große Teile der noch vorhandenen Maschinen demontiert. Das meiste ging in die Sowjetunion. Bald schon endete jedoch mit dem Kalten Krieg und dem weltweit steigenden Bedarf an Lagern und anderen technischen Produkten die Deindustrialisierung Deutschlands. Bei Kugelfischer konnten Georg und Otto Schäfer, die, zunächst als „regimetreu“ beschuldigt, in ihrer Firma nicht arbeiten durften, 1948 die Geschäfte wieder übernehmen. Willy Sachs überließ sie bis zu seinem Freitod 1958 – er soll unter Depressionen gelitten haben – weitgehend Managern. Sein Sohn Ernst Wilhelm stand bis 1967 an der Spitze des Unternehmens, 1977 kam er bei einem Lawinenunfall ums Leben. Der zweite Sohn, Gunter, – Playboy, Brigitte Bardot-Gatte, erfolgreicher Kunstsammler und Fotograf – war an der Firma hingegen nur wenig interessiert.
1976 verkauften die Brüder ein Viertel der Aktien an den britischen Konzern GKN, was vom Kartellamt jedoch rückgängig gemacht wurde. Die Commerzbank übernahm das Paket. Zwei Jahre später gab Gunter Sachs den Großteil seiner restlichen Aktien an den bundeseigenen Salzgitterkonzern ab. Seinen Nichten Monika, Elinor und Caroline war der Verkauf zunächst testamentarisch verbaut. Ab 1987 wurde der Röhren- und Maschinenbaukonzern Mannesmann Hauptgesellschafter und übernahm die Aktienpakete der Commerzbank, des Salzgitterkonzerns und der Töchter Ernst Wilhelms. Heute gehört Sachs zur ZF Friedrichshafen AG.
Kugelfischer blieb zunächst ein reines Familienunternehmen, mit Georg, Otto, Otto G. und Fritz Schäfer in Führungspositionen. 1983 wurde die KG in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die sich zu Beginn der 1990er Jahren mit dem Erwerb der maroden ostdeutschen Wälzlagerunternehmen verhob, knapp am Ruin vorbeischlitterte und 2001 von dem vermeintlich kleineren Mitbewerber Schaeffler aus Herzogenaurach in einer dramatischen Schlacht übernommen wurde. Damit ist auch dieses Traditionsunternehmen nicht mehr in Schweinfurter Hand.