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WÜRZBURG
Filmwochenende: Profi-Tipps vor der Eröffnung
Die Chefs der Filminititive.
Foto: Theresa Müller | Die Chefs der Filminititive.
Redaktion
 |  aktualisiert: 16.12.2020 11:32 Uhr

Thomas Schulz, 53, Lehrer, Vorstand der Filminitiative und Festival-Chef:

Berlin-Neukölln: Hier leben 300 000 Menschen, mehr als ein Drittel von ihnen sind Migranten, viele aus der Türkei. Das Leben in einem fremden Land mit seinen ebenso fremden kulturellen Vorstellungen stürzt viele türkische Männer in einen Konflikt um Rollenmuster und Ehrenkodex. Der Psychologe Kazim Erdogan weiß um diese Problematik und hat deshalb den Verein „Aufbruch Neukölln!“ gegründet: eine türkische Männerselbsthilfegruppe. In ihrem Dokumentarfilm „Halbmondwahrheiten“ hat Regisseurin Bettina Blümner, bekannt durch ihre Erfolgsdoku „Prinzessinnenbad“ und am Donnerstag beim Filmwochenende zu Gast, diese Gruppe portaitiert. Wir lernen hier Männer kennen, die aufgeschlossen und freundlich sind. Männer, die Gefühle zeigen und sich nicht deswegen schämen. Männer, die Gewalt ablehnen. Sie teilen Erfahrungen, die sie alleine nicht bewältigen können. Dabei geht es um Themen wie Traditionen, Gewalt, das  Leben in der Fremde und die Doppelmoral der Ehre.  Der Dokumentarfilm hinterfragt alte Vorurteile und stellt Männer vor, über die wir viel zu wenig wissen.

„Halbmondwahrheiten“ läuft am Donnerstag, 29. Januar, um 19.45 Uhr und am Samstag, 31. Januar um 11 Uhr.



Viviane Bogumil, 26, Kunsthistorikerin, zweite Vorsitzende der Filminitiative:

Ein Animationsfilm mit Orangen und Zitronen – das hört sich nach leichtem Kinderfilm an. Doch die liebevoll gemachten Figuren in „Lisa Limone and Maroc Orange: A Rapid Love Story“ spiegeln erschreckend real das Schicksal von Flüchtlingen wider. Ein marokkanischer Bootsflüchtling strandet in Italien und wird dort auf einer Ketchup-Farm versklavt. Am Rande der Erschöpfung hält ihn nichts mehr am Leben außer der Liebe zu Lisa Limone, der zitronigen Tochter des skrupellosen Tomaten-Fabrikanten … toll gemacht und hoch bewegend!

„Lisa Limone“ läuft am Donnerstag, 29. Januar um 16 Uhr und am Fr., 30. Januar, um 15.30 Uhr.


Birgit Pelchmann, 59, Lehrerin, Mitglied der Programmgruppe

Mein Tipp: „At li layla“.  Chelli lebt mit ihrer geistig behinderten Schwester Gabby in einer lauten, schäbigen Wohnung in Haifa. Die Mittzwanzigerin will Gabby nicht in ein Heim geben, weil sie am besten zu wissen meint, was für ihre kleine Schwester gut ist. Ein  packender Einblick in das Leben und die Gefühlswelt zweier Schwestern mit und ohne Behinderung, ein Leben in verschiedenen Welten. Betreuung von Menschen mit Behinderung – das ist wohl eines der Themen, die widersprüchliche Emotionen auslösen: Überforderung, Symbiose, Verdächtigungen, Grenzüberschreitungen, Zorn, Liebe, Abhängigkeit sind nur wenige Begriffe, die zum Alltag gehören, wenn Angehörige und Betreuer nicht loslassen können, dürfen, oder wollen.

„At li layla“ läuft am Sonntag, 1, Februar um 12.45 Uhr.


Susanne Bauer, 42, Sonderschullehrerin, Mitarbeiterin im Organisationsteam:

Mein Tipp: „A hard Day“. Asiatisches Kino fristet in Europa leider immer noch ein Nischendasein.
Dabei haben gerade die Südkoreaner an Qualität, Frische und Ideen das formelhafte Hollywood längst überholt.
Wer Krimis mag, sollte den unterhaltsamen, schwarzhumorigen von A hard Day unbedingt angucken. Einen besseren Einstieg ins asiatische Thriller-Kino kann man sich nicht wünschen. Wer noch mehr Argumente braucht,  der sei darauf hingewiesen, dass der Film in seinem
Heimatland für sieben Grand Bells, dem dortigen Pendant zum amerikanischen
Oscar, nominiert war und drei davon gewonnen hat.

„A hard Day“ läuft am Donnerstag, 29. Januar, um 22.15 Uhr und am Samstag, 31. Januar um 23 Uhr.


Franziska Werbe, 44, unterrichtet Deutsch als Fremdsprache, Organisation und Kasse

Mein Tipp: „52 Tuesdays“. 2014 begeisterte der Film „Boyhood“ das Publikum, in dem Regisseur Richard Linklater das Aufwachsen eines Jungen über 12 Jahre lang verfolgte – und den Film über dieselbe Zeitspanne drehte. Ein ähnliches Prinzip verfolgt 52 Tuesdays: Sowohl die Filmhandlung als auch die Dreharbeiten umfassen genau ein Jahr. Jeden Dienstag wurde gefilmt, und so kann man der jugendlichen Heldin, die bei Drehbeginn 16 war, beim Erwachsenwerden zuschauen. Eine andere Entwicklung macht die Film-Mutter des Mädchens durch: innerhalb eines Jahres wandelt sie sich von einer Frau zum Mann. Hier treffen eine Coming-of-age-Story, Gender-Themen und eine spannende Projektstruktur aufeinander – ein Film, wie man ihn nur auf Festivals zu sehen bekommt.

„52 Tuesdays“ läuft am Donnerstag, 29 Januar um 22 Uhr und am Sonntag, 1. Februar, 17 Uhr.



Christian Molik, 43, Fremdsprachenkorrespondent, Hausmann und Festival-Vorstand

Mein Tipp: „Vonarstræti“. Island vor der großen Finanzkrise: Drei Episoden über drei Leben in der Hauptstadt Reykjavík verdichten sich zum Porträt einer Gesellschaft am Scheideweg: Ein Schriftstellers, der als junger Mann einen Bestseller geschrieben hat und nach der Scheidung dem Alkohol verfallen ist. Eine alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem Gehalt als Kindergärtnerin nicht auskommt und anschaffen geht. Und ein ehemaliger Fußballprofi, der zum Big Player bei einer Bank aufsteigt und sein Familienleben aufs Spiel setzt. Baldvin Zophoníasson hat einen visuell bestechenden, naturalistischen Film gedreht, der niemals seine Figuren aus den Augen verliert und in dem ein bemerkenswerter Satz fällt: „Was guckst du denn so ernst? Du siehst aus wie ein Deutscher im Sommerurlaub!“

„Vonarstræti - Life in a Fishbowl“ läuft am Donnerstag, 29. Januar, um 19.45 Uhr und am Samstag, 31. Januar um 19 Uhr.


Barbara Englert, 53, Verwaltungsangestellte, Büroleiterin beim Festival

Mein Tipp ist „La Reconstrucción“: Eduardo ist im Öl-Business beschäftigt und gilt als effizienter Arbeiter. In seiner Freizeit vermeidet er soziale Kontakte. Als ihn eines Tages ein Freund von früher bittet, für ein paar Tage in seinem Souvenirladen auszuhelfen, rafft Eduardo sich auf, setzt sich ins Auto und lässt die Routine seines Alltags hinter sich – in einem ganz anderen Ausmaß, als er es sich vorstellen kann. Eine spannend gespielte, feinfühlige, leise, emotionale Reise ans Ende der Welt, nach Patagonien und in die traurige Seele von Eduardo, der nur widerwillig dem Freund hilft. Großes Kino, das in völligem Understatement daherkommt!

„La Reconstrucción“ läuft am Donnerstag, 29. Januar, um 22.15 Uhr und am Samstag, 31. Januar, um 21.15 Uhr.


Florian Hoffmann, 41 Jahre, Kleinkünstler, Mitglied der Programmgruppe

Über diesen Film freue ich mich fast am meisten, dass wir ihn zeigen – den habe ich völlig unerwartet bei einem kanadischen Verleiher entdeckt und er hat mich von Anfang bis Ende in seinen Bann geschlagen. Eine spannende Achterbahnfahrt durch Charakterdrama, Jean-Paul-Sartre-Düsternis, „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Variante, Suburbia-Krimi und übernatürlichen Thriller! Ein Mann findet sich in einer Zeitschleife wieder, in der er immer wieder denselben alltäglichen Nachmittag mit Gartenarbeit, Magenschmerzen und Ehekrach durchleben muss – doch der Grund dafür hat es in sich! Und das Problem, das Schicksal auszuhebeln noch viel mehr... Nach 20 Minuten dachte ich, ich weiß, wo der Film hingeht – und fünf Minuten später kam es ganz anders. Und fünf Minuten später wieder anders! Und wieder... und wieder... Tolles Drehbuch! Hervorragende Schauspieler! Eine Wundertüte von vorne bis hinten! Dazu haben wir auch den Regisseur zu Gast und der Film feiert bei uns Deutschlandpremiere.

„Cruel & Unusual“: am Freitag, 30. Januar, 22.15 Uhr, am Samstag, 31. Januar, 21.45 Uhr.


Richard Schwaderer, 71, Literaturwissenschaftler, Mitglied der Programmgruppe

Deutschlandpremiere! Die in Italien 2014 erfolgreichste Komödie kommt vom talentierten Newcomer Sydney Sibilia. Eine Gruppe von frustrierten Jungforschern, die wegen der krisenbedingten, brutalen Sparmaßnahmen ihre Jobs an der Uni verloren haben, beschließt, sich mangels anständiger Möglichkeiten zum Geldverdienen auf die Produktion und den Handel mit synthetischen Drogen zu verlegen.  Die Geschichte dieser naiven Gangsterlehrlinge, wird mit einer verblüffenden Leichtigkeit und Eleganz erzählt, die die darin versteckte bissige Gesellschaftskritik an keiner Stelle schwerfällig und „didaktisch“ erscheinen lässt. Sydney Sibilia lässt die so lange vermisste, schwungvolle und gepfefferte  „commedia all?taliana“ wieder auferstehen. Ein reines, „diebisches“ Vergnügen!

Smetto quando voglio“ läuft am Freitag, 30. Januar um 18.15 Uhr und am Sonntag, 1. Februar, um 18.15 Uhr.


Frank Nehling, 48, Lehrer, Mitarbeiter für die Festival-Homepage

Filme mit starker Reduktion bei Schauplätzen und Personenzahl gehen gern mal in die Hose: Doch dieses Kammerspiel zwischen einem Psychologen und seinem Patienten, die ein Katz-und-Maus-Spiel miteinander spielen, ist spannend von Anfang bis Ende dank souveräner Regie und wunderbar nuancierter Schauspieler.

„Elephant Song“: am Freitag, 30. Januar, 14 Uhr und Sonntag, 1. Februar um 21.30 Uhr.



Olga Gleiser, 38, Dozentin an der Universität, bei der Programmgestaltung dabei:

Mit feiner Brise wahren georgischen Sinns für Humor greift der Film „Didi Papa– Urgroßvater“ von Irakli Kochlamazashvili nach den wichtigsten Fragen des Lebens nach dem Krieg und stellt die gegenwärtige georgische Landschaft und die einmalige Kultur dar: mutige Menschen, wunderbare Natur, schöne Musik und natürlich den guten georgischen Wein. Der Regisseur hat den Film mit seinem Herzen gedreht und dies ist die richtige Aufgabe der Filmkunst. Viele Leute kennen Georgien vom Hören, aber nicht viele wissen, was heute in Georgien passiert und wie die Menschen dort tatsächlich leben. Der Film gibt den Zuschauern die Möglichkeit, dies auch in Würzburg zu erfahren.

Didi Papa“ läuft am Samstag, 31. Januar, um 11 Uhr und Sonntag, 1. Februar um 13.15 Uhr.



Sascha Eichholz, 42, Grafik-Designer, Programmmacher und Grafiker beim Festival

Jesse Moss Film „The Overnighters“ ist einer der meist diskutierten Dokumentarfilme des Jahres. Er zeichnet ein ernüchterndes Bild des amerikanische Traums vor dem Hintergrund des neuerlichen Ölbooms und behandelt nebenbei ein aktuelles Thema: Woher kommen die Unsicherheiten und Anfeindungen gegenüber Menschen in Not, die einen Platz nebenan beanspruchen? Der Film ist auch ein faszinierendes Portrait eines zerrissenen Menschen: Pastor Jay Reinke will nur helfen, wie es ihm als Christ natürlich erscheint und sieht seine Gemeinde gegen sich. Die Geschichte von Pastor Reinke, dessen Figur eine tiefgreifende Wandlung durchläuft, verleiht dem Film eine Vielschichtigkeit, die nur wenige Dokumentarfilme für sich beanspruchen können.

The Overnighters“ läuft am Donnerstag, 29. Januar, um 16 Uhr und am Sonntag, 1. Februar um 11 Uhr.



Clémence Leboucher, 22, Studentin, Programmgestaltung (Frankreich)

Mein Filmtipp: „Maestro“ von Léa Fazer aus Frankreich. Der Film ist eine Hommage an den Regisseur Eric Rohmer und den Schauspieler Jocelyn Quivrin. Der noch junge Schauspieler hatte in Rohmers letztem Film gespielt und kam kurz darauf bei einem Unfall ums Leben. Man muss kein Rohmer-Fan sein, um „Maestro“ mögen zu können. Die Geschichte könnte ebenso die von vielen anderen Schauspielern und Regisseuren sein. In dem Film träumt der junge Schauspieler Henri davon, der Superstar eines Hollywood-Streifens zu werden und bekommt durch Zufall und Lüge eine Rolle in der neusten Produktion von Rovère, einem Meister des Autorenkinos. Weder Rohmers noch Quivrins realer Tod,werden angesprochen. Es bleibt nur das Lustige und das Schöne: die Konfrontation zweier unterschiedlicher Blickwinkel auf das Kino. Regisseurin Léa Fazer hat es mit „Maestro“ geschafft, ihre Trauer zu überwinden und so einen Film zu erschaffen, der den Geist und die Kreativität von Quivrin in sich trägt.

„Maestro“ läuft am Freitag, 30. Januar, um 14 Uhr und am Samstag, 31. Januar, um 11 Uhr.


41. Würzburger Filmwochenende

Gespielt wird in vier Sälen des Central-Kinos, Maxstraße 2. Karten für die Vorstellungen von Donnerstag um 13.45 Uhr bis Sonntag um 21.30 Uhr gibt es ab Mittwoch, 16 Uhr, unter
Tel. (09 31) 78 02 38 88 sowie im Internet unter www.filmwochenende.de













 
 
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