Europa wählt. Noch am gestrigen Abend lieferten sich die Spitzenkandidaten der Parteienfamilien heftige Rede-Schlachten in der ARD, heute geht es wieder auf die Straßen – ab morgen hat der Wähler das Wort. Traditionell finden Wahlen in Großbritannien und den Niederlanden am Donnerstag statt, also auch die Europawahl. Am Freitag sind dann die Tschechen und Iren aufgerufen, ihre Kandidaten für die europäische Volksvertretung zu bestimmen. Die übrigen 23 Länder – darunter auch Deutschland – folgen am Sonntag. Insgesamt knapp 400 Millionen Wahlberechtigte können ihre Stimme abgeben.
Und noch ist nicht wirklich klar, wie das Rennen um die Wählergunst ausgeht. In den letzten Wochen haben die Konservativen sich leicht von den Sozialdemokraten absetzen können. Auf dem dritten Platz landeten in den Prognosen die Liberalen, gleichauf mit diversen Vertretern rechter und EU-kritischer Parteien, die Grünen und Linken kamen auf Platz fünf und sechs. Doch ob das Bild stimmt, ist unklar.
Die Demoskopen tun sich schwer, es gibt kein verlässliches Datenmaterial. Erst wenn am Sonntag um 22 Uhr die Wahllokale schließen und gegen 23 Uhr die erste europäische Hochrechnung vorliegt, dürfte klar sein, wer im neuen Straßburger Plenum die Mehrheit hat. Ob dann auch schon die beiden Spitzenkandidaten der großen Blöcke, Martin Schulz für die Sozialdemokraten und Jean-Claude Juncker für die Konservativen, absehen können, wer von beiden seine politische Laufbahn auf dem Platz des Kommissionspräsidenten fortsetzen kann, ist allerdings offen.
Zwar kommen schon am Dienstag die Staats- und Regierungschefs in der EU-Metropole zu einem Sondergipfel zusammen, um den Ausgang der Wahl zu besprechen. Doch festlegen wollen sie sich dann noch nicht – vor allem nicht auf einen Nachfolger für den im Herbst ausscheidenden José Manuel Barroso.
Auch wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel bereits vor der „größten Volksverdummungsaktion“ warnte, die sich dann ergeben würde, wenn in den Hinterzimmern ein anderer Kandidat ausgekungelt werde, bleibt das Kanzleramt dabei: Im Lissabonner Vertrag gebe es „keinen Automatismus“. Soll heißen: Auch wer die Wahl gewinnt, braucht die Unterstützung der Staats- und Regierungschefs, ehe das Parlament ihn wählen kann.
Das dürfte schwierig werden: Der britische Premier will beide nicht, Griechen, Italiener und Spanier halten nichts von einem Deutschen an der Spitze des wichtigsten EU-Gremiums. Und auch Juncker muss sich auf viel Widerstand einstellen, selbst wenn die Konservativen wieder die meisten Sitze erringen können.
Als Kompromisskandidaten sind der irische Premier Enda Kenny oder die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, im Gespräch. Doch sogar in den Regierungszentralen weiß man: Wenn man einen benannten Spitzenkandidaten, der dann auch noch erfolgreich war, absägt, geht das nicht ohne massiven Vertrauensverlust.
Europa steht vor einigen heißen Wochen, denn viele Jobs müssen neu besetzt werden: Neben dem Chef der nächsten Kommission werden ein neuer Parlamentspräsident, ein Ratspräsident, ein Chefdiplomat und ein mutmaßlich hauptamtlicher Vorsitzender der Euro-Gruppe gesucht. Da gäbe es, sogar für ehemalige Spitzenkandidaten, viele Möglichkeiten, untergebracht zu werden.
Der Kommissionspräsident
Seit 1979 wird das Europäische Parlament in Straßburg direkt von den Bürgern gewählt. Aber erst 35 Jahre später bekommen die Stimmen der 390 Millionen Wahlberechtigten noch mehr Gewicht. Denn zum ersten Mal ziehen die großen der insgesamt 13 Parteienfamilien im Straßburger Plenum mit Spitzenkandidaten in den Wahlkampf.
Der Wahlsieger steht als erster Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten bereit, das im Herbst neu zu besetzen ist. Bislang ist der Portugiese José Manuel Barroso Präsident der Kommission.
Der künftige Chef der EU-Kommission wird zwar formell von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen, ins Amt kommt er aber nur mit Zustimmung des Parlaments. Daher müssen die Staats- und Regierungschefs den Ausgang der Wahl berücksichtigen und daran denken, dem Parlament einen Kandidaten zu präsentieren, den die Mehrheit auch wählen will.