Eintrag vom Sonntag, 17. Mai 1944, über den Arbeitsdienst bei Koenig & Bauer. Sie reinigt, wie alle Frauen dort, Granaten mit Terpentin, schmiert Schrauben mit dickem braunen Öl ein und wickelt die Granaten in braunes Papier. Ihre Kollegen sind italienische Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter gehalten werden. Ortrun ist besorgt: "Sie sehen alle bleich und müde aus, und ich frage mich, ob sie genug zu essen bekommen." Die junge Frau hat nichts mit den Nazis gemein.
Dienstag, 30. Mai 1944: "Ich muss über Carlo schreiben! Ich sah ihn zum ersten Mal, als ich in die dunkle Fabrikhalle kam, ein großer Mann mit schmalem, bleichem Gesicht und schwarzem Haar. Er arbeitete etwa 20 Meter von mir entfernt, gelegentlich sah er mich an und lächelte." Er ist Medizinstudent. "Seine Mutter, die er sehr liebt, und seine sechs Schwestern leben in Italien. Als er mir von seiner Familie erzählte, merkte ich an seinem Blick, welches Heimweh der arme Carlo haben muss."
Sonntag, 3. September 1944: "Carlo ist frei! Alle italienischen Kriegsgefangenen sind jetzt freie Arbeiter, sie können gehen, wohin sie wollen. Sie dürfen nicht mit Deutschen sprechen." Er besucht sie, die ganze Familie mag ihn gerne.
Vier Tage später: "Als ich am Montag in die Fabrik kam, bemerkte ich, dass jeder weg sah, als ich die Halle betrat, und keiner ein Wort sprach." Jemand hatte gesehen, dass Carlo bei ihr war. Die nächsten Tage "waren fast unerträglich. Niemand sprach mit mir, die Frauen spuckten aus, wenn sie mich sahen." Die Gestapo hat ein Auge auf die Koerbers, "wir leben in größter Furcht". Aber sie steht zu Carlo.
Dienstag, 21. November 1944: "Die Offensive im Westen hat endlich begonnen. Ich stricke ein Paar Fausthandschuhe für Carlo. Es sind die ersten, die ich stricke, und es ist viel schwerer als ich dachte." Er wird neben ihrer Schwester der einzige sein, dem sie ein Weihnachtsgeschenk machen kann.
Samstag, 3. März 1945: "Abends um 20 Uhr summten wie wütende Hornissen Flugzeuge über der Stadt, die sehr schwere Sprengbomben abwarfen." Montag, 5. März: "Carlo kam und begann Türen und Fenster zu reparieren. Mutti bat ihn, bei uns zu bleiben. Das ist natürlich verboten, aber es ist so beruhigend, ihn hier zu haben." Montag, 12. März 1945: "Es ist eiskalt. Ich sitze in einer kleinen Holzhütte (oberhalb des Oberen Dallenbergwegs, Anmerkung der Redaktion) Die ganze Stadt liegt ausgebreitet unter uns, dahinter die Wälder. Wir hoffen, dass hier keine Bomben fallen." Carlo ist bei ihr.
Ein Kuss mitten im Inferno
Freitag, 16. März 1945, der grauenhafte, alles zerstörende Angriff auf Würzburg hat begonnen: "Es war so fürchterlich, der betäubende Donner der Bomben, das morbide, unnatürliche Licht, und der Tod, der so nah war. Abertausende von Bomben wurden abgeworfen. Die Explosionen betäubten uns fast und ließen uns nach Luft schnappen." Sie lagen im feuchten Gras und sahen auf die Stadt im Todeskampf, Carlo ganz nah bei ihr. Und während die Welt um die beiden herum explodierte, während 5000 Kinder, Frauen und Männer in einem unbeschreiblichen Inferno verbrannten, während Würzburg in 25 Minuten krachend, schreiend und heulend unterging, fanden die beiden jungen Leute die einzige Antwort, die es auf diesen Wahnsinn gibt: die Liebe. Er küsste sie.
Ein seltsamer, trauriger Abschied
Montag, 19. März 1945: "Wenn ich hier in der Sonne vor unserer kleinen Hütte sitze und den Liedern der Lerchen zuhöre, könnte ich fast glauben, dass alles ein Albtraum war, wenn ich nicht vom Schreiben aufblickte und auf das schaue, was einmal Würzburg: graue Ruinen, die nach drei Tagen noch schwelen."
Samstag, 14. April 1945: "Carlo ist auf dem Weg nach Italien. Er war traurig, uns zu verlassen, jedoch überglücklich, zu seiner Familie in Italien zurückzukehren. Es war seltsam und traurig, ihn zu verlieren."
Dienstag, 8. Mai 1945: "Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus! Die ganze Welt ruft diese Worte. Ich gehe ans Fenster und schaue auf die Ruinen von Würzburg. Tränen steigen mir in die Augen. Ich weiß nicht ob vor Trauer oder aus Dankbarkeit."
Ortrun und Carlo sahen sich nie wieder.