Meine Biografie ist keine Privatangelegenheit, sondern ein Teil der Gesellschaft, aus der ich komme.“ Eine ungewöhnliche Aussage einer außergewöhnlichen Frau. Ursprünglich sollte Zehra Akçay in Deutschland keine Schule besuchen. Heute ist sie Rechtsanwältin und Kommunalpolitikerin, lebt mit ihrer Familie in Dittelbrunn. In ihrem Herkunftsland Türkei wäre dieser Aufstieg nicht möglich gewesen. Davon ist sie überzeugt. Deswegen will sie, wie sie sagt, der deutschen Gesellschaft etwas zurückgeben. Und sei es nur der ungeschönte Blick in ihre Vita.
Sie ist geprägt wie viele der Gastarbeiterkinder, die nun in zweiter und dritter Generation in Deutschland leben. Zehra Akçays Vater kommt 1975 nach Stade in Niedersachsen. Ein Jahr später holt er seine Frau und die beiden Kinder nach. Aus einem kleinen Dorf bei Konya, einem der konservativsten Gegenden der Türkei. Der Einwanderer findet nur im Sommer einen Job. „Wir hatten oft nichts zu essen“, erinnert sich Akçay. Sie kommt in die Vorschule, lernt dort das erste Mal Deutsch.
Als die reguläre Einschulung ansteht, schickt ihr Vater die Siebenjährige zum Großvater in die Türkei. Aus Sicht des Vaters konnte man seine Tochter nicht in Deutschland zur Schule schicken. Dennoch kommt das Mädchen Jahre später wieder zurück. Es besucht die dritte Klasse. Fremd, überfordert, verschüchtert. Zehra versteht kein Wort. Nach drei Wochen steht fest: Sie soll auf eine Sonderschule wechseln.
Dass seine Tochter tagtäglich weinend nach Hause kommt, macht den Vater wütend. Er geht zur Lehrerin, wird massiv, fast handgreiflich. Die Drohgebärde hilft insoweit, dass das Thema Sonderschule keines mehr ist. Die Lehrerin findet eine Alternative: Sie schickt Zehra nachmittags zu einer Klassenkameradin, um dort die Hausaufgaben zu machen und die fremde Sprache zu lernen.
„Ich bin meinem Vater dankbar“, sagt Zehra Akçay heute. Ihm habe sie es letztlich zu verdanken, dass sie ihren späteren Lebensweg so habe gehen können, wie sie es getan hat. Denn sie hat ein leibhaftiges Gegenbeispiel vor Augen: In der Klasse war ein türkischer Junge. Ebenso verloren wie die kleine Zehra. Gegen die Versetzung auf die Sonderschule intervenierte niemand: „Er hatte keine Chance auf Bildung, wie ich sie gehabt habe.“
Für Zehra Akçay steht nie in Frage, diese Chance nutzen zu wollen. Sie absolviert die Orientierungsstufe, macht den Realschulabschluss. Die Pädagogen raten von einem Wechsel ans Gymnasium ab – aus Angst, ein Scheitern könnte dem schüchternen Teenager schaden. „Sie kannten meinen Ehrgeiz nicht.“ Zehra Akçay macht das Abitur. „Ich muss studieren“, stand für sie schon mit sieben Jahren fest, obwohl sie aus einem Elternhaus stammt, das man heute als bildungsfern bezeichnen würde. „Trotz zahlreicher sonst auferlegter Einschränkungen war für meinen Vater mein Studium eine Selbstverständlichkeit, für andere in unserem Umfeld jedoch fast eine unerträgliche Ermöglichung für ein Mädchen, da ich aus deren Sicht so in die unkontrollierbare Freiheit entlassen wurde.“
Auch für diese Haltung ihrer Eltern empfindet sie Dankbarkeit. Und gerade diese Freiheit war ihr Ziel. Sie schreibt sich in Kiel für Jura ein. So weit weg von zu Hause, um nicht daheim wohnen zu müssen. Und doch so nah, um binnen kurzer Zeit zurückkommen zu können. Ihre Mutter ist krank. Schon als Kind hat Zehra Akçay einen Großteil der Hausarbeit übernommen, den Behördenkram erledigt, für die Nachbarn gedolmetscht, nachts gelernt. „Das Leben eines normalen Kindes habe ich nicht gekannt.“
Wenn Zehra Akçay über ihren Werdegang spricht, sieht man vor dem geistigen Auge eine junge Frau, die rastlos durch ihr Leben hetzt. Auf der Suche nach Freiheit, Selbstständigkeit und Glück. Immer hin- und hergerissen zwischen dem Verantwortungsgefühl für ihre Familie und dem Drang, ihren eigenen Weg zu finden. Eine schwere seelische Belastung gerade für einen jungen Menschen. Von der selbstbewussten Anwältin ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu sehen. Von Bitterkeit ist in ihren Erzählungen aber nichts zu spüren, Zehra Akçay analysiert messerscharf und schonungslos Ursache und Wirkung von Ereignissen in ihrem Leben. Immer hat sie vor Augen, welche Chancen Deutschland jungen Menschen bieten kann.
Ihr Freiheitsdrang leitet sie auch, als sie sich für ein Referendariat bewirbt. Nicht in Hamburg und Niedersachsen, sondern in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Zuvor geht sie sechs Monate in die Türkei, um sich mit dem Rechtssystem dort vertraut zu machen. Eine Spontanbewerbung bringt sie zu einer Schweinfurter Rechtsanwaltskanzlei.
In Franken fühlt sie das erste Mal, dass sie angekommen ist: „Ich bin hier heimisch geworden.“ Das Leben davor nennt sie „Übergangsstationen“. Sie arbeitet als Anwältin, ihre zwei Jungs kommen auf die Welt. Ihr deutscher Mann, ein Richter am Landgericht, ist ebenfalls engagiert für Gesellschaft und Familie. Familiäre Kontakte in ihr Herkunftsland hat sie nicht: „Die Türkei ist für mich nur ein Urlaubsland.“ Über den SPD-Stadtrat Thomas End findet Zehra Akçay den Weg in die Politik. „Migration durch Bildung“, nennt sie ihren wichtigsten Ansatz. Die Sache mit der Sonderschule hat sie dabei geprägt. Inzwischen ist sie Gemeinderätin in Dittelbrunn und Kreisrätin. Die erste in Schweinfurt mit türkischen Wurzeln.
Die große Politik, das ist nichts für sie. Zu viel Ellenbogen im Spiel, findet sie. Deshalb hat sie bislang auch nur auf kommunaler Ebene kandidiert. Zutrauen würde sich Zehra Akçay ein verantwortungsvolles politisches Amt durchaus. Mit ihrer Berufsausbildung und dem Migrationshintergrund wären ihre Chancen gut, analysiert sie. Das eigene Umfeld mitzugestalten, reiche ihr aber aus – „erstmal“. Ihre jahrelange Rastlosigkeit hat Zehra Akçay verloren, ihren Ehrgeiz und den Anspruch an sich selbst nicht.
Zehra Akçay hat beruflich viel mit Scheidungen zu tun. Auch von türkischen Frauen. Ihre eigene Biografie macht es leichter, die Frauen zu verstehen und deren Vertrauen zu gewinnen. Denn ihre Vita, so macht sie sich stets bewusst, hätte auch anders verlaufen können, wäre sie in der Türkei geblieben: „Ich hätte mit 18 geheiratet, Kinder gekriegt und Kühe gemolken.“ Sie sagt das nüchtern und emotionslos. Und es schwingt auch Stolz und Selbstbewusstsein mit, es geschafft zu haben. Aus eigener Kraft und mit Beharrlichkeit.
Aber auch, so ist Zehra Akçays Sicht, weil ihr Staat und Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet haben und Bildung der Schlüssel ist. „Ich habe die Verpflichtung, dies zurückzugeben. Meine Geschichte soll anderen helfen.“ Deswegen ist für sie ihre Biografie keine Privatangelegenheit.