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BAD KISSINGEN/GERBRUNN
Digitale Helfer: Bis der Arzt aufs Display kommt
Ob Diagnosen per Videokonferenz oder Herzschrittmacher, die den Puls aussenden: Digitale Anwendungen machen Gesundheit zu einer Frage der Technik. Was Telemedizin alles kann, testen Experten in Unterfranken.
Direkter Draht ohne Kabel: Schon vom Rettungswagen aus erreichen die wichtigsten Patientenwerte über einen mobilen Tablet-PC das Herzzentrum. Durch das sogenannte Cardio-Angel-System kann der Facharzt schon aus der Ferne weitere Behandlungsschritte einleiten.
Foto: ztm | Direkter Draht ohne Kabel: Schon vom Rettungswagen aus erreichen die wichtigsten Patientenwerte über einen mobilen Tablet-PC das Herzzentrum.
Von unserem Redaktionsmitglied Julia Haug
 |  aktualisiert: 11.11.2021 15:42 Uhr

Von manch abgelegenem Punkt Bayerns sieht das Auge kein einziges Hausdach. Romantisch kann man das finden. Doch wenn der Blick plötzlich verschwimmt und die Knie wegsacken, hört die Romantik auf. Bei einem Schlaganfall entscheiden Minuten darüber, ob Folgeschäden bleiben. Auf der Fahrt zu einem der 19 bayerischen Schlaganfallzentren – sechs davon in Unter- und Oberfranken – kommt es deshalb auf die optimale Versorgung an. Doch der Austausch mit Experten der angesteuerten Klinik war bisher begrenzt.

Die Rettung kommt mit der Digitalisierung: Viele Notarztwagen etwa im Einzugsgebiet des Bad Neustädter Schlaganfallzentrums haben ein Gerät an Bord, das einem Tablet-PC ähnelt. Mit dem können die Rettungskräfte per Fingerdruck die Gesundheitsdaten des Patienten in die Klinik schicken: Mit Geschlecht, Symptomen, EKG- und Blutdruckwerten kann der Facharzt aus der Ferne den Zustand des Patienten beurteilen – „und schon vor der Ankunft des Patienten im Krankenhaus Vorbereitungen wie die Reservierung eines Geräts zur Computertomografie treffen“, sagt Sebastian Dresbach, Geschäftsführer des Zentrums für Telemedizin e. V. (ZTM) in Bad Kissingen.

Der Verein und seine mehr als zehn Pilotprojekte werden seit 2012 für vier Jahre vom Freistaat Bayern finanziell unterstützt. „Wir sollen entwickeln, testen und implementieren“, sagt Geschäftsführer Dresbach. Auf lange Sicht gelte es weniger, die Technik um der Technik willen auszureizen, sondern ganz pragmatisch „die medizinische Versorgung auf dem aktuellen Niveau zu halten oder zu verbessern“. Den demografischen Wandel und Fachkräftemangel ausgleichen – das seien die Herausforderungen der nächsten 30 Jahre.

Technisch möglich ist in der Telemedizin viel. Eines der ZTM–Projekte versetzt einen niedergelassenen Arzt im Landkreis Bad Kissingen zur Video-Sprechstunde virtuell in ein Altenheim. Ein Kollege in Bad Neustadt kann Anliegen des Personals aus dem Pflegeheim unabhängig von der Tageszeit beantworten – eine Art E-Mail-System, das um medizinische Daten erweitert wurde. In einem dritten Projekt in Zusammenarbeit mit dem Thoraxzentrum Münnerstadt (Lkr. Bad Kissingen) kann der Lungenfacharzt entlassene Patienten in einer Wohngemeinschaft in Bad Bocklet (Lkr. Bad Kissingen) weiter betreuen, inklusive Datenaustausch und Echtzeitvideo. Technisch funktioniert das über gewöhnliche Internetverbindungen wie DSL oder schnurlose wie UMTS.

Sensible personenbezogene Daten schwirren also durch das Netz. Nicht nur die Frage des Datengeheimnisses beschäftigt deshalb die deutsche Ärzteschaft, auch das immer noch lahmende Internet in ländlichen Gebieten könnte zum Problem für eine lückenlose Versorgung werden. Wieder könnte das dünn besiedelte Land benachteiligt sein – absurd, weil doch dessen Erschließung mit medizinischer Versorgung als oberstes Ziel der Telemedizin gilt.

Für die meisten Anwendungen „braucht man nicht unbedingt Glasfasernetze“, wiegelt Klaus Schilling ab. Er leitet das Zentrum für Telematik (ZfT) in Gerbrunn (Lkr. Würzburg) mit dem Fachbereich Telemedizin, das ebenfalls ein Versuchsprojekt mit Lungenpatienten betreibt. Während das Kissinger ZTM eher versuche, vorhandene Techniken in der Telemedizin anzuwenden, forsche das ZfT an zukünftigen Ansätzen. Die Technik sei im Unterschied zu rechtlichen und politischen Punkten schon weiter, sagt Schilling.

Auch Dresbach vom ZTM sieht die großen Baustellen inzwischen jenseits der Technologien: „Refinanzierung, Benutzerakzeptanz und Datenschutz.“ Einzelne Anwendungen würden inzwischen schon von Krankenkassen abgedeckt.

Politisch gewollt ist das Projekt Telemedizin zweifellos. Es gilt als vielversprechendes Mittel gegen den Ärztemangel auf dem Land. „Wir können nicht mehr in jedem 800-Seelen-Ort für die medizinische Grundversorgung einen kompletten Arztsitz vorhalten“, sagte jüngst Franz Bartmann, Vorsitzender des Telematik-Ausschusses der Bundesärztekammer. Mit seiner eHealth-Initiative will das Bundesgesundheitsministerium die nötige Gesetzesgrundlage dafür schaffen. Die verbindliche Einführung der Gesundheitskarte mit Foto und Datenchip gilt als ein kleiner Baustein in der fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitswesens.

Doch wird das kranke, einsame Mütterchen bald nur noch von Displays betreut? Die Skepsis der Patienten ist heute noch groß, stellt auch Dresbach fest – aber die Generation mit selbstverständlichem Technikumgang rücke nach. Zudem sei die Sorge weitgehend unbegründet: „Der Arzt-Patienten-Kontakt wird intensiviert.“ Auch Matthias Görs, Projektleiter des ZfT, hält „das Bauchgefühl eines Arztes“ immer noch für einen wichtigen Faktor, den es auch künftig brauche. Der schlichte Vorteil der Telemedizin: Statt wie bisher standardmäßig etwa nach vier Wochen wieder zum Arzt zu gehen, stehe dank des technischen Kontakts erst wieder ein Besuch an, sobald die Symptome es nötig machten. „Die psychologische Komponente“ eines Arztbesuchs, also den Kontakt von Mensch zu Mensch, könnten stattdessen oftmals Pflegekräfte übernehmen, sagt auch ZfT-Kollege Schilling. Die „Arbeitsteilung“ zwischen Arzt und sonstigem Medizinpersonal sei durch die Telemedizin einfacher.

Um die Telemedizin auch unter medizinischen Fachkräften zu verbreiten, bietet die Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS) in einem deutschlandweit neuen berufsbegleitenden Lehrgang Ärzten oder Fachpersonal mit Berufserfahrung Fortbildungen in allen Bereichen der Telemedizin: Medizin, Technik sowie rechtliche und ökonomische Grundlagen in sechs Monaten. „Etwas Ähnliches wird es demnächst von der Industrie- und Handelskammer auch für medizinisches Assistenzpersonal geben“, kündigt Dresbach vom Kissinger Zentrum für Telemedizin an.

Sogar die große Frage Datenschutz halten Vorreiter der Telemedizin wie er, für weitgehend beantwortet. „Da müssen wir uns in Deutschland nicht verstecken.“ Die sensiblen, aber verschlüsselten Krankheitsdaten verliefen durch „gesicherte Leitungen“.

eHealth und Telemedizin

Unter dem Oberbegriff „eHealth“, zu deutsch „elektronische Gesundheit“, werden Anwendungen zusammengefasst, mit denen Patienten dank moderner Übertragungswege behandelt und begleitet werden.

Die Telemedizin macht den größten Teil von eHealth aus. Laut Bundesgesundheitsministerium soll sie „für den ländlichen Raum wichtiger Bestandteil der medizinischen Versorgung“ werden. Weil es sich in dünn besiedelten Gebieten nicht rechnet oder wegen des Ärztemangels schwierig gestaltet, Fachärzte einzusetzen, sollen Spezialisten über den digitalen Weg helfen: etwa im Livevideo Sprechstunden in Altenheimen abhalten oder Herzschrittmacher zentral überwachen, die die Daten vollautomatisch ans Kardiozentrum übertragen. Persönliche Termine unter vier Augen werden dann nur nach akutem Bedarf vereinbart.

Gesetzliche Krankenkassen bezahlen telemedizinische Anwendungen bisher nur begrenzt. Mit dem deutschen Telemedizin-Portal und einer zugehörigen Initiative versucht das Bundesgesundheitsministerium aber, die allein in Bayern mehr als 40 Versuchsprojekte in eine gemeinsame Form zu bringen und zu bündeln. Das Bayerische Gesundheitsministerium fördert zudem die Pilotprojekte des Zentrums für Telemedizin in Bad Kissingen für vier Jahre. Das Bundesforschungsministerium gewährt Finanzspritzen im Gesamtwert von 80 Millionen Euro für ausgewählte Projekte. TEXT: jha

 
 
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