Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Dörfchen Unterweißenbrunn im Nachbarlandkreis Rhön-Grabfeld von einer Tragödie verschont geblieben. Die alten Unterweißenbrunner können sich noch erinnern. Ein brennender Bomber kam über das Brendtal herauf, flog über den Ort hinweg und stürzte oberhalb von Unterweißenbrunn auf einen Acker.
Edgar Schöppner kennt die Geschichte seit seiner Kindheit. Seine Großmutter Rosa Schöppner hat immer wieder davon gesprochen, denn der Acker, auf dem das Unglück passierte, gehört der Familie. Immer wieder findet Edgar Schöppner beim Ackern verschmorte Plastik- und Kabelteile, Plexiglas, sowie Alu- und andere Bruchstücke des Unglücks.
In diesem Jahr, als er im Frühjahr seinen Acker bestellte, kam ein auf den ersten Blick undefinierbares Teil zum Vorschein. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es das Rotorblatt eines Propellers ist. „Ich bin beim Grubbern dran hängen geblieben.“ Der Fund ließ Edgar Schöppner keine Ruhe, er recherchierte die Geschichte des Bombers.
Als in den 90er Jahren die Unterweißenbrunner Kirche saniert wurde, wurden auch die Unterlagen gesichtet, die in der Turmkugel aufbewahrt werden. Edgar Schöppner besorgte sich eine Abschrift, die besagt: „Vor der Zerstörung durch einen Luftangriff wurde unsere Gemeinde bewahrt, nicht aber vor den Schrecken und Beängstigungen, welche die regelmäßige Ansammlung der Bombengeschwader im Rhöngebirge bei Angriffen in den Städten mit sich brachte. Am Sonntag, 15. Januar 1945, nachts um halb eins stürzte ein viermotoriges englisches Bomben-Flugzeug brennend auf dem Acker vor dem Tore in der Nähe des Kreuzbergweges nieder. Sechs Flieger aus Kanada waren tot und wurden auf dem Friedhof begraben.“
In Unterweißenbrunn wird erzählt, dass die Flieger ihr Leben ließen, um Unterweißenbrunn vor einer Katastrophe zu bewahren. Seine Großmutter habe Edgar Schöppner immer wieder erzählt, dass der Pilot alles versucht habe, sein Flugzeug über den Ort hinweg zu bringen. „Er hat sein Leben für Unterweißenbrunn geopfert“, ist sich Edgar Schöppner sicher. Nach dem Absturz sei das Flugzeug von der SS aus Wildflecken beschlagnahmt worden. Das Gebiet wurde weiträumig abgesperrt, die Trümmer wurden weggeschafft – bis auf die vielen Kleinteile, die Edgar Schöppner heute noch auf seinem Acker findet, und bis auf den beschädigten und mittlerweile stark oxidierten Propellerflügel.
Damit die Geschichte des abgestürzten Bombers der Nachwelt erhalten bleibt, hat Edgar Schöppner das Rotorblatt an Bürgermeister Udo Baumann übergeben und ihm die ganze Geschichte erzählt. Schöppner möchte an der Unglücksstelle einen Gedenkstein aufstellen, der an die Nacht des 15. Januars 1945 erinnert. Dabei gehe es ihm nicht um Glorifizierung, sondern um Erinnerung und Würdigung des Piloten und seiner Kameraden, um Dankbarkeit und um ein Zeichen der Versöhnung. Zugleich könne es auch ein Mahnmal dafür sein, dass die Schrecken des Kriegs damals und der Kriege, die heute weltweit geführt werden, nicht vergessen oder verdrängt werden dürfen.
Die sechs zu Tode gekommenen Kanadier liegen nicht mehr auf dem Unterweißenbrunner Friedhof. „Nach dem Krieg haben die Engländer die sterblichen Überreste geholt“, weiß Edgar Schöppner.
Im Moment ist er dabei, weitere Recherchen zu betreiben. „Ich möchte gerne herausfinden, wo das Flugzeug in England startete und welches Ziel es hatte. Vielleicht gelingt es auch, die Namen der Besatzung ausfindig zu machen.“
Schöppner möchte gar nicht daran denken, was für eine Katastrophe über Unterweißenbrunn hereingebrochen wäre, wenn der Bomber über dem Ort abgestürzt wäre. „Die Leute sind erschrocken aus ihren Häusern gerannt und haben gesehen, wie das brennende Flugzeug knapp am Kirchturm vorbeiflog.“ Damals waren die meisten Bewohner Landwirte, ihre Scheunen im Winter waren voll mit Heu, Stroh und Vieh: „Alles hätte lichterloh brennen können.“
Geheimnis um den Flugzeugabsturz gelüftet
Manche Geschichten entwickeln eine erstaunliche Eigendynamik. Norbert Vollmann, Redaktionskollege in Gerolzhofen und ausgewiesener Fachmann für die Luftschlachten des Zweiten Weltkrieges, schaltete sich in die Recherchen rund um diesen Flugzeugabsturz ein und wurde fündig. Ursprünglich nur um Amtshilfe auf der Suche nach geeigneter Bebilderung für den Artikel gebeten, ist es ihm offensichtlich gelungen, das Rätsel zu lösen.
Hier das Ergebnis seiner Nachforschungen: Es muss sich um den Lancaster-Bomber mit dem Kennzeichen KB769 der 419. Staffel der kanadischen Luftwaffe (Royal Canadian Air Force, RCAF) handeln. Sie wurde auch aufgrund des im Abzeichen geführten Wappentieres Moose-Squadron, also Elch-Schwadron, genannt.
Der Angriff in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1945 galt den Hydrierwerken in Leuna, wo synthetisches Benzin hergestellt wurde. Der Bomber mit einer rein kanadischen Besatzung war um 18.42 Uhr auf dem britischen Luftwaffenstützpunkt Middleton St. George in der Nähe von Darlington in der Grafschaft Durham gestartet. Er wurde auf dem Rückflug von einem deutschen Nachtjagdflugzeug abgefangen und in Brand geschossen.
Als einzigem Besatzungsmitglied gelang es Flight Officer Eddy, sich noch per Fallschirmabsprung aus dem brennenden Bomber zu retten. Er landete in den Ästen eines Baumes und zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu.
Während Eddy in Kriegsgefangenschaft geriet, kamen seine sechs Landsleute allesamt ums Leben. Ihre sterblichen Überreste wurden nach dem Krieg von den Alliierten exhumiert und ruhen seitdem auf dem bei Hannover angelegten zentralen Soldatenfriedhof der Commonwealth Kriegsgräber-Kommission für Norddeutschland.
Sergeant Williams war 37 Jahre alt und hatte damit bereits das übliche Alter für derartige Kampfeinsätze überschritten.
Der Pilot, Flight Lieutenant George Osborne Tedford, war zum Zeitpunkt des Absturzes 25 Jahre alt.