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Die blaugrünen Augen beginnen zu funkeln
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Foto: FOTO ULI VÄTH
Von unserem Redaktionsmitglied Uli Väth
 |  aktualisiert: 16.12.2020 14:22 Uhr
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auptstraße 66 in 97842 Karbach. Keine Kuh macht mehr muh. Die Zeiten, als in dem landwirtschaftlichen Anwesen die kleine Tanja mit den Kälbchen spielte, sind vorbei. Der Stall ist leer, die Viehzucht eingestellt. Roman Hart konzentriert sich auf den Ackerbau. Und seine Tochter ganz und gar auf ihre dritte Olympia-Teilnahme.

Das Elternhaus ist Ausgangspunkt einer kleinen Zeitreise durch das Volleyball-Dorf in Main-Spessart und das Leben der Volleyball-Nationalspielerin Tanja Hart.

Über den Tannenberg gehen wir zur Schulturnhalle. Früher sei sie einen anderen Weg gegangen, sagt Tanja Hart, früher hätten sich die Mädchen vom Unterdorf und vom Oberdorf an der Kirchentreppe getroffen und seien gemeinsam hoch zur Schule gelaufen. Über zwanzig Jahre ist es her, dass bis zu dreißig Karbacher Mädchen viermal die Woche zum Training von Harald Freund gekommen sind. "Jedes Training war ein Erlebnis", erinnert sie sich und spricht davon, dass sie auch Handball oder Fußball gespielt hätten.

Auf dem Weg über den Pausenhof erzählt die 30-Jährige, wie oft sie als Kinder hier "Fangeles" gespielt haben. Und beim Betreten der Halle rümpft sie leicht die Nase und meint, "es riecht ja noch genau so wie damals". Ihre Augen wandern suchend durch den leeren Raum. "Unvorstellbar, alles so klein hier", beschreibt sie ihr erstes sportliches Wohnzimmer, "nicht zu glauben, dass wir hier bis zur Bayernliga gespielt haben." Nur dank einer Sondergenehmigung war es möglich gewesen, die Halle als Spielort zu nutzen.

Ergraute Bälle und bunte Aufkleber

Als sie die alten Netze am Boden liegen sieht, graben sich Grübchen in die Wangen. Tanja Hart schmunzelt und steuert auf den Ballwagen zu. Zwischen den neuen, bunt gestreiften Bällen greifen ihre langen, schlanken Finger nach ein paar der alten, weißen Volleybälle, die äußerlich schon schwer ergraut sind und denen die Luft ausgegangen ist. "Die sind bestimmt noch von damals", lacht sie und deutet auf einen Schrank, der mit Aufklebern bepflastert ist. "Hey, die hängen ja immer noch da", freut sie sich und erzählt, dass die runden Etiketten mit den lustigen Szenen von den Spielerinnen selbst entworfen wurden.

Es wird nostalgisch. Tanja Hart berichtet davon, dass diese Aufkleber nicht nur auf alle möglichen Utensilien gepappt, sondern auch im Stau auf der Autobahn verteilt wurden. "Wir sind ja schon als Jugendliche viel rumgekommen", sagt sie und macht darauf aufmerksam, dass sie mit der DJK Karbach erst mit der D-, dann mit der C- und schließlich noch mit der B-Jugend deutsche Meisterin geworden ist.

Durch die Oberlichter blinzelt die Mai-Sonne. Es ist ruhig, nur von draußen dringt der Lärm der Schulkinder ein wenig ins Innere. Tanja Hart lässt ihr Leben als Leistungssportlerin Revue passieren. Bis zum siebzehnten Lebensjahr war sie Angreiferin. Erst als sie vorübergehend zum mehrmaligen deutschen Meister nach Feuerbach wechselte, hat sie das Zuspiel erlernt. Sie versichert, dass sie ihre Nationaleinsätze nicht gezählt hat und schätzt, dass es zwischen 170 und 180 sein müssen. Sie merkt an, dass ihre Karriere "eine ganz außergewöhnliche" sei, weil sie die einzige Nationalspielerin ist, die nicht in einer Sportschule oder einem Internat ausgebildet wurde. Sie sagt, dass sie in der Nationalmannschaft die begehrte Rückennummer 3 ("Das ist wie im Fußball die 10") bekommen hat, weil die Konfektionsgröße allen anderen nicht passte.

Wie ein Kamm gleiten ihre Finger durch ihr blondes Haar. Tanja Hart schlägt den Bogen zu Olympia. "Olympische Spiele sind gerade für Sportler von Randsportarten das Schönste und Größte, weil man nur hier die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erfährt." Ihre blaugrünen Augen beginnen zu funkeln. Sie spricht vom Sprinter Linford Christie und vom Tennisspieler Tommy Haas, die sie bei ihren beiden Olympia-Teilnahmen in Atlanta und Sydney getroffen hat, und von der einzigartigen Atmosphäre im Olympischen Dorf. Ihre Gedanken wandern nach Athen. "Gerade weil es in Griechenland wahrscheinlich nicht so perfekt ist, wie es in den USA und Australien war, wird Athen sehr interessant." Als Griechenland-Fan hat sie gleich im Anschluss an die Spiele einen einwöchigen Urlaub gebucht.

Auf dem Weg aus der Halle zählt Tanja Hart die Mannschaften auf, mit denen es ihr Team in der schweren Vorrunde-Gruppe zu tun bekommt: "China, USA, Russland, Kuba, Dominikanische Republik - nur die ersten Vier kommen weiter", runzelt sie die Stirn und sinniert, dass nach Platz acht in Atlanta und Platz sechs in Sydney ein Medaillenrang traumhaft wäre.

Wir gehen Richtung Dorfmitte. Die Zuspielerin redet über die Zuspielerin. "Wir sind die Regisseure, wir haben 50 Prozent aller Ballkontakte, die anderen 50 Prozent verteilen sich auf die fünf Mitspielerinnen." Zuspielen erfordere strategische Fähigkeiten - Fähigkeiten, den Ball im richtigen Augenblick der richtigen Mitspielerin wie auf einem Silbertablett zu servieren. "Auf dieser Position sind keine extravertierten Typen gefragt", betont sie. "Zuspielerinnen stehen meistens im Hintergrund, aber das gefällt mir ganz gut."

Die Kirchturmuhr von St. Vitus schlägt zur Mittagsstunde. Vor uns liegt der Friedhof. Tanja Hart war in letzter Zeit oft hier. Vor einem halben Jahr hat der Krebs das Leben ihrer Mutter zerstört. Zu früh, viel zu früh. Nur 53 Jahre durfte sie leben. Die Tochter hat mit dem Schicksalsschlag noch immer zu kämpfen. Sie trauert, aber sie erscheint nicht traurig. "Vielleicht schaut uns Mama ja gerade von oben zu", kleidet sie schwere Gedanken in leichte Worte und gesteht, zur Religion eine neue Beziehung gefunden zu haben: "Ich bin froh, dass ich gläubig bin und mich in dieser Situation an Hoffnungen klammern kann."

"Mohrekopf-Brötli" vom "Meichele"

Wir laufen weiter. Schweigend. Bis der Marktplatz vor uns liegt. Die Karbacherin aktiviert ihr Langzeitgedächtnis. "Hier haben wir uns vor den Auswärtsspielen getroffen, und hier hat die Blaskapelle gespielt, als wir in die Bundesliga aufgestiegen sind." Sie erinnert sich an wunderbare Momente und die vielen schönen Feiern beim Friedel, dem Wirt vom nahe gelegenen Gasthof Engelhardt. Tanja Hart lacht, als sie auf den kleinen Laden auf der anderen Straßenseite blickt und erzählt, dass sie sich vor der Abfahrt zu den Auswärtsspielen "beim Meichele mit Mohrekopf-Brötli" gestärkt haben.

Eine Gasse weist uns den Weg zur Festhalle. "Die neue kommt an die alte Halle nicht ran", platzt es aus ihr heraus. Die neue Halle, die nach dem vernichtenden Feuer vor einigen Jahren erbaut wurde, ist eben noch zu jung, um Geschichten erzählen zu können. "Mit dem alten Gebäude verbinden sich eben viele schöne Erinnerungen", begründet sie ihre Sympathie für das alte Bauwerk, in dem auch die Volleyballerinnen mitunter ausgelassen gefeiert haben.

Wir kommen auf den SSV Ulm zu sprechen, bei dem sie seit dem Rückzug der DJK Karbach aus der Bundesliga unter Vertrag steht. In Schwaben ist sie vor einem Jahr deutsche Meisterin und Pokalsiegerin geworden und hat somit erreicht, was ihr in acht Karbacher Bundesliga-Jahren verwehrt blieb. Doch auch an der Donau sprudelt das Geld nicht mehr. "Ich weiß noch nicht, wie es weitergeht und wo ich in der nächsten Saison spiele", sagt sie.

Der Kreis schließt sich. Nur noch ein kleiner Abstecher in die Idylle, an den Bach, nach dem der Ort benannt ist. Die Balken der alten Holzbrücke über dem Karbach sind ziemlich morsch. Von hier zu ihrem Elternhaus ist es nicht viel mehr als ein Steinwurf.

Tanja Hart spricht davon, wie sie hier als kleines Mädchen mit ihrem Hund gespielt hat. Von der Brücke aus schweifen ihre Blicke liebevoll hinüber auf ihren verträumten Heimatort. Dass sie sich hier fest niederläßt, kann sie sich dennoch nicht wirklich vorstellen. "Eine überschaubare Kleinstadt" sollte es sein, wo sie eine Familie gründen und ihr Leben nach dem Leistungssport fortsetzen will.

Im Herzen schwört sie Karbach aber ewige Treue.

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Foto: FOTO ULI VÄTH
 
 
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