Es sind zwar nicht gleich die Wurzeln jüdischen Lebens in Nordamerika, die der gebürtige Gochsheimer Abraham Joseph Reis Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt hat; aber als erster ordinierter Rabbiner in dem jungen Staat trug er doch seinen Teil bei zum beachtlichen Aufschwung, den das Judentum seinerzeit nahm. Zwischen 1825 und 1860 nämlich kletterte die jüdische Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von 6000 auf über 150 000 Bürger. Und der 1840 zunächst nach New York übergesiedelte und ab 1841 in der jüdischen Gemeinde von Baltimore als Rabbiner dienende Reis – in Amerika nannte er sich natürlich „Rice“ – galt ihnen als spiritueller Führer.
Reis wurde 1802 in Gochsheim geboren. Dort gab es damals eine rund 150 Personen starke israelitische Kultusgemeinde mit Synagoge, eigener Schule und religiösem Bad („Mikwe“) im Judenhof des Ortes. Diese galt als streng orthodox und lebte nach den Vorgaben von Tora und Mizwot. Namentlich bekannt ist laut heute noch existierenden Aufzeichnungen eine Familie Maier Isaak Reiss, die dort noch um 1817 einen Trödelhandel betrieb; ob der spätere Rabbiner dieser entstammte, kann nicht mehr nachvollzogen werden.
Anders der Lebensweg des Abraham Joseph Reis. Der wurde durch Rabbi Shmuel Singer, einen jüdischen Publizisten mit zahlreichen, heute online einsehbaren Veröffentlichungen, ausführlich dokumentiert. Demnach besuchte Reis die Würzburger Judenschule unter Oberrabbiner Abraham Bing und erhielt seine streng orthodoxe Prägung, die ihm später auch den Einstieg in Baltimore erschweren sollte, in Fürth bei Rabbi Wolf Hamburger. Vor seiner Auswanderung nach Amerika lehrte Reis als Professor für Talmud, privat war er inzwischen mit Rosalie, der Tochter von Schmuel Halevi Leucht, verheiratet. Kollegen und Förderer überredeten ihn um 1840, in die „Neue Welt“ umzusiedeln, um der jüdischen Gemeinde dort als erster ordinierter Rabbiner beim Aufbau zu helfen.
Rabbi Abraham Reis über die USA der 1840er Jahre
Tatsächlich fand Abraham Joseph Reis bei seiner Ankunft in New York auch „chaotische Verhältnisse“ vor, geprägt von Scharlatanen, die sich als Rabbiner verdingten, ohne jemals die Bibel oder den Talmud studiert zu haben. Diese setzten sich „die rabbinische Kappe auf den Kopf wie Napoleon die Krone“, schrieb Reis seinerzeit verächtlich.
Im nahen Newport scheiterte der gebürtige Gochsheimer zunächst beim Aufbau einer jüdischen Gemeinde, ab 1841 diente er in der Kongregation Nidchei Israel in Baltimore als Rabbiner. Abraham Joseph Reis war ein strenger Geistlicher, der sich vehement gegen ein aufkommendes liberales Judentum stemmte und damit auch viel Kritik erntete.
Sein Vorgehen gegen Sabbatbrecher, das Festhalten an überlieferten jüdischen Begräbnisritualen nach dem Tod eines prominenten Gemeindemitglieds, und sein Beharren auf dem traditionellen Gebetsritus entfremdeten ihn von seinem Gemeindevolk, weshalb er 1849 die Stelle aufgeben musste.
Fortan verdingte sich der Rabbi als Kurzwarenhändler in Baltimore und eröffnete einen eigenen Gebetskreis. An seinen früheren Lehrer Wolf Hamburger schrieb er in dieser Zeit: „Das religiöse Leben in diesem Land liegt am Boden. Die meisten Menschen essen nicht koschere Nahrungsmittel und brechen öffentlich den Sabbat. Ich frage mich ernsthaft, ob es überhaupt erlaubt sein sollte, als Jude in diesem Land zu leben.“
Unter den orthodoxen Juden in den USA besaß der Rabbiner dennoch weiterhin einen klangvollen Namen, auch wegen seiner regelmäßigen Veröffentlichungen im jüdischen Monatsmagazin „The Occident“. Dort schrieb er im Jahr 1855: „Und wenn der Himmel in Rauch aufgeht, die Erde an Altersschwäche stirbt, werden wir nicht einen Jota von unserem Glauben weichen.“ Sieben Jahre später erhielt er noch einmal die Chance, seine strengen Positionen offiziell an den Mann zu bringen: Seine alte Gemeinde in Baltimore rief, er akzeptierte, nachdem sich diese offiziell zum orthodoxen Judentum bekannte.
Eine bleibende Wirkung hinterließ er in seiner zweiten Amtszeit als Rabbiner jedoch nicht mehr: Fünf Monate nach der Berufung starb er im Alter von 60 Jahren an einem Herzinfarkt. Seine Frau Rosalie lebte noch bis 1878 und erhielt damals eine Rente von 300 Dollar im Jahr. Das Grab des Geistlichen wird heute noch regelmäßig von orthodoxen Juden besucht, die ihn wegen seiner Strenge nach wie vor verehren. Am 15. März 2010 trafen sich im Jüdischen Museum zu Baltimore 50 Nachkommen des Ehepaares um des bekannten Rabbiners aus Gochsheim zu gedenken. Sein Tod jährt sich heuer zum 150. Mal.