
Andantino. Ein wenig bewegt. Mit noch kalten Fingern, ohne Einspielen, nicht jeder Ton trifft sofort. Katia Bouscarrut grinst. Martin Schiessler schüttelt den Kopf. Crescendo, lauter werdend, verfliegt die Steifheit. Immer schneller tanzen die Finger auf Seiten und Tasten, Geige und Flügel zelebrieren Edward Elgars „Salut d'amour“.
Klassische Kammermusik mitten im Wohnzimmer eines alten Bauernhofes in Binsbach (Lkr. Main-Spessart), zu den letzten Tönen rumpelt vor dem Fenster die Müllabfuhr vorbei. Bouscarrut und Schiessler scheinen es kaum zu merken. Wo sie musizieren, ist egal, ob auf der Konzertbühne, in ihrer Künstler-WG oder eben auf dem Eumel.
Der Eumel, genauer gesagt Der Blaue Eumel, ist der Grund, warum Katia Bouscarrut, Martin Schiessler, Tobias Schirmer und Boris Wagner seit Oktober 2012 zusammenwohnen. Ein blauer Laster, den die vier Künstler zur mobilen Konzertbühne umfunktioniert und Eumel getauft haben. Darauf wollen sie Kultur in entlegene Regionen tragen. Ohne den musealen Charakter großer Opernhäuser, sondern draußen, in Jeans und gerne auch barfuß. Vor fast genau einem Jahr haben sie dazu den gemeinnützigen Verein „Der Blaue Eumel – Mobile Kunst e.V.“ mit gegründet. Die Idee ist einfach: Immer mehr Menschen meiden Konzertsäle aus falschem Respekt, denken, sie seien zu ungebildet für Mendelssohn oder Beethoven. „Diese Angst wollen wir den Leuten nehmen“, sagt Katia Bouscarrut. „Man muss sie einfach mit Mozart überraschen – und das geht nur auf der Straße.“
Im vergangenen Sommer tourte die Gruppe deshalb mit dem Eumel von Deutschland über die Schweiz bis nach Frankreich. Über die Wintermonate stand der blaue, vom Technischen Hilfswerk (THW) stammende Laster in der Scheune in Binsbach. Hier, auf einem grau verputzten Hof im fränkischen Land, haben die vier Künstler den passenden Raum für ihr Projekt gefunden: Meist ist kein Mensch auf der Straße zu sehen, keinen stören Jazz-Sessions am Schlagzeug oder Etüden am Flügel. Ursprünglich seien alle vier WG-Mitglieder „hochausgebildete Fachidioten“, wie Thomas Schirmer schmunzelt, denen es in den Konzertsälen jedoch zu eng geworden ist. Deshalb die Flucht aufs Land, wo Platz ist. Für ein Schlagzeugstudio im Kuhstall und für eine riesige Küche mit Gasherd und Töpfen wie aus Omas Zeiten. Für eine kleine Bühne für Boris Wagner, der sein Geld als Schauspieler am Mainfranken Theater verdient und als Moderator die Auftritte mit dem Eumel begleitet. Vor allem aber für die Freiheit zu entscheiden, „was, wann, wo und wie man spielt“, sagt Schiessler.
Schräg gegenüber dem Innenhof liegen die ehemaligen Ställe. Aus dem Gebäude in der Mitte blitzt eine blaue Plane, hier steht er, der Eumel. Bouscarrut klettert hinters Steuer. Der alte Mercedes-Motor stottert, der Laster bewegt sich keinen Zentimeter. Zweiter Versuch. Dritter. Beim vierten Mal springt er an. Schwerfällig rollt das Fahrzeug aus seinem Winterquartier. „Für die Leute war das immer faszinierend, wenn wir mit unserem blauen Auto vorgefahren sind, in Badelatschen, und unsere Bühne aufgebaut haben“, sagt Martin Schiessler. Der Auftritt mit dem betagten Laster von 1979 mache für die Zuschauer aus „ungreifbaren Musikern ganz normale Typen“, die nicht nur ihren Geigenstock, sondern eben auch den Schraubenschlüssel anpacken. So ist der Eumel irgendwie längst mehr als eine Bühne für den weißen Flügel (eine Leihgabe des Mainfranken Theaters), er hat auf der Frankreich-Tour sowohl Erfolge als auch Strapazen mit den Musikern geteilt. Am Ende des Jahres war seine blaue Plane, die gleich einem Theatervorhang vor jedem Auftritt hochgezogen wird, verschlissen. Bouscarrut hat sie von Hand geflickt und fühlte sich dabei wie „ein Fischer, der nach dem Sommer sein Netz repariert“.
Begonnen hatte der Sommer für die Eumel-Truppe im Juli mit einem Konzert im Klanggarten des Würzburger Stadtteils Zellerau. Über 200 Zuhörer kamen, die Spenden dienten als Startkapital für die Tour nach Frankreich. Drei Wochen lang tuckerte der Eumel von Franken bis nach Bordeaux, in die Heimat Katia Bouscarruts. Als Tochter eines Franzosen und einer Deutschen aus Oberammergau lernte die zierliche Frau mit vier Jahren Noten lesen, seitdem ist die Musik Mittelpunkt ihres Lebens, „ein Ausdruck von Emotionen und Zuständen“, sagt sie. Mit dem Eumel will sie diesen vermitteln, eine Art direkte Kommunikation mit dem Publikum soll entstehen. Deshalb sind alle Auftritte moderiert, die Kompositionen werden in eine Geschichte eingebettet.
Während der Tour wurde jeden Tag geprobt, denn die Besetzung wechselte. Die Konzerte entstanden spontan, da „wo ist ein schöner Platz war und wo wir spielen durften“, sagt Schiessler. Das war mal auf einem Markt, mal mitten in einer Fußgängerzone, mal auf einem Campingplatz am Titisee. Dort beispielsweise weckte der Eumel die Neugier eines zeltenden Pärchens. Mitten in der Nacht wurde noch einmal alles aufgebaut und nur für die beiden zwei, drei Stücke gespielt. „Das sind Momente, bei denen völlig egal ist, wer im Publikum sitzt. Danach ist man einfach zufrieden“, sagt der Geiger.
Schwierigkeiten gab es auf der Fahrt nach Bordeaux, abgesehen von der finanziellen Ungewissheit, kaum. Bürgermeister luden die Musiker spontan zum Abendessen ein und in einem Musikcamp avancierte „le pata-puff bleu“ zum Liebling von 70 Kindern. „Die Leute suchen anscheinend genau das, was wir machen“, sagt Bouscarrut. Qualitativ ist das ein rein klassisches Programm wie in jedem großen Konzertsaal. Unter freiem Himmel jedoch empfinden viele Zuhörer diese „eigentlich recht schwere Kammermusik“ plötzlich als einfach, zumindest als einfach zu hören. Es ist das Bodenständige der Klassik, für das es kein passenderes Bild geben kann als den mit stählernen „Stiefeln“ an der Ladefläche des Eumel festgeschraubten Konzertflügel. Und da das weiße Instrument den Sommer auf der Straße mit wenigen kleinen Verstimmungen überstanden hat, soll es in diesem Jahr möglichst wieder losgehen.
Nach dem ersten geplanten Konzert am 5. Mai in Arnstein wollen die Musiker auf Frühlings- und Sommerfesten im Würzburger Umland und im Spessart auftreten. Im Hochsommer geht es dann wieder mit dem Eumel auf Tour, nach Polen und Tschechien, zu den Partnerstädten Würzburgs und Arnsteins – wenn genügend Spenden zusammenkommen. Denn Geld lässt sich mit dem Eumel bisher nicht verdienen, alle vier WG-Bewohner finanzieren ihr Leben mit Lehraufträgen an der Hochschule für Musik. Die Arbeit für den Verein Mobile Kunst läuft nebenher, ehrenamtlich und zeitaufwendig. Nur: „Wir sind eben trotzdem noch Künstler und da ist Üben das Wichtigste“, sagt Bouscarrut, leert den letzten Schluck ihres Kaffees und springt auf.
Die Ärmel werden hochgekrempelt. Fast verschwindet Bouscarrut hinter dem schwarzen Flügel im Musikzimmer. Der Blick geht zu ihrem Freund Tobias Schirmer. Der sitzt am Schlagzeug, noch immer im Sportanzug, aber plötzlich nicht mehr lässig, sondern hoch konzentriert, die Augen geschlossen. Ohne erkennbare Absprache geht es los. Beethoven mit Schlagzeug, anders, ungewohnt, besser. Eine Ahnung davon, was auf der Bühne des Blauen Eumel passiert. Nach dem letzten Ton ist es still. Dann Applaus, unwillkürlich. Nicht weil es zum Ablauf gehört, sondern weil es das einzig Richtige ist in diesem Moment, mitten in der halbfertigen Bauernhof-WG.
Kontakt: Der Blaue Eumel – Mobile Kunst e.V. www.der-blaue-eumel.de Tel. (09 31) 4 04 69 24 Mail: info@der-blaue-eumel.de