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SCHWEINFURT
Das Netz ist nicht mehr so stabil
Energiewende: Der Schweinfurter Professor Johannes Paulus betrachtet den Zeitplan für den Atomausstieg skeptisch. Die Nagelprobe kommt seiner Meinung nach in fünf Jahren. Dann wird das AKW Grafenrheinfeld schon abgeschaltet sein.
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Das Gespräch führte Josef Schäfer
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:41 Uhr

Gravierende Fehler bei der Vorsorge gegen Naturkatastrophen haben nach Ansicht des Schweinfurter FH-Professors Johannes Paulus das Atomdesaster von Fukushima ausgelöst. Eine Folge des GAU vor einem Jahr war der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie. Der Wissenschaftler Paulus sieht noch große Defizite bei der Umsetzung der Energiewende.

Frage: Die Katastrophe von Fukushima liegt ein Jahr zurück. Nach den Informationen von heute: Wäre sie zu verhindern gewesen?

Johannes Paulus: Die Mängel, die zu einer mehrfachen Kernschmelze geführt haben, waren lange Zeit vorher bekannt. Es war auch lange Zeit vorher bekannt, dass Tsunamis in dieser Größenordnung auftreten können und die Vorsorge dagegen nicht ausreichend war. Das Schlimmste an der Situation ist vermutlich die Erkenntnis, dass man bei den Reaktoren, die 2011/2012 hätten abgeschaltet werden sollen, die Kosten für eine ordentliche Tsunami-Nachrüstung gescheut hat.

Also eine Atomkatastrophe, ausgelöst durch Missmanagement.

Paulus: Das waren Auslegungsfehler, die bekannt waren und die man hätte beseitigen können.

Eine der ersten Fragen, die man sich hierzulande gestellt hat, war folgende: Ist solch eine Katastrophe mit Kernschmelze auch in Deutschland denkbar?

Paulus: Das war ein Ereignis außerhalb der Auslegung der dortigen Anlagen. Für auslegungsüberschreitende Störfälle gibt es keine Vorsorge. Da ist man dann im Bereich der Schadensbegrenzung. Rein theoretisch können auch in Deutschland schwere Störfälle mit einem Kernschmelzszenario auftreten. Es besteht aber nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit wie in Japan. Dort lag sie de facto bei eins, weil es diese Schutzmaßnahmen nicht gegeben hat. In Deutschland sind nach Fukushima alle Anlagen unter die Lupe genommen worden, um für seltene Ereignisse wie Erdbeben, Hochwasser oder Flugzeugabstürze die vorhandenen Reserven zu analysieren, die Anlagen zu verbessern und das Risiko zu minimieren.

Sind in Ihren Augen diese Stresstests geeignet gewesen, um diese Risiken zu verkleinern?

Paulus: Der Stresstest an sich minimiert kein Risiko. Er zeigt auf, ob es größer oder kleiner ist, als man es haben will. Wenn daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden, wenn zum Beispiel Anlagen mit Mängeln nachgerüstet oder andere abgeschaltet werden, ist es risikominimierend. Wenn man das nicht tut, ist der Stresstest nur eine Schau dessen, was als Risiko akzeptiert wird.

In Deutschland ist eine Reihe von Kernkraftwerken abgeschaltet worden und man hat das Ziel definiert, aus der Kernenergie auszusteigen. Sie haben sich immer skeptisch geäußert, ob der Zeitplan eingehalten werden kann.

Paulus: Der Meinung bin ich immer noch. Heute haben wir doch das Gefühl, dass wir einen etwas kälteren Winter überstanden haben und die Stromversorgung gut funktioniert hat. Nun wagt man die Prognose, dass dies auch künftig funktionieren wird. Da bin ich nicht so optimistisch: Man hat die Energiewende falsch angefangen. Die Fehler sind schon vor zehn Jahren gemacht worden.

Welche waren das?

Paulus: Als man 2000 den Ausstiegsbeschluss im Konsens gefasst hat, hat sich die damalige rot-grüne Bundesregierung zurückgelehnt und Förderungen für Solar- und Windstrom beschlossen, um die eigene Klientel zu bedienen. Sie hat aber nichts dafür getan, wie die Energiewende, die man vom Ende eher denken muss, erreicht werden kann. Uns fehlen heute Leitungen und Speicherkapazitäten – Dinge, die man vor zehn Jahren hätte auf den Weg bringen müssen. Der Ausstieg vom Ausstieg 2010 hatte den Hintergrund, dass man die Kernkraftwerke brauchte, um sich diese notwendige Zeit zu kaufen. Ein Jahr später nun folgte der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg. Die Situation aufseiten der Netze und der Speichermöglichkeiten ist aber nicht besser geworden. Das ist das Problem, schließlich leben wir in einem Industrieland, das eine gesicherte Energieversorgung braucht.

Die Probleme im Februar sind angeblich durch Spekulationen auf dem Strommarkt ausgelöst worden und nicht durch fehlende Kapazitäten.

Paulus: Für einen Teil mag ich das nicht ausschließen. Wir haben in Europa nicht zu wenig Strom. Das ist wie in jedem anderen Markt auch: Wenn genug dafür bezahlt wird, gibt es auch Anbieter. Im Zweifel werden alte Kohlekraftwerke aus der Kaltreserve ausgemottet, weil man damit Geld verdienen kann. Das Problem sind auf lange Sicht die Netzstabilität und die Speicherung. Als Beispiel nenne ich die Erhöhung der Wasserstofftragfähigkeit des Gasnetzes. Hätte man über Jahre hinweg die Gesetze so gestaltet, dass man dem Gas bis zu zehn Prozent Wasserstoff beimischen darf, könnte man relativ schnell einen Teil des Ökostroms als Wasserstoff zwischenspeichern. Das hätte fast nichts gekostet. Aber man hätte sich das schon 2002 überlegen müssen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist die Energiewende zu schaffen, aber nicht im vorgegebenen Zeitrahmen.

Paulus: Zum Schwur wird es in fünf bis sechs Jahren kommen, wenn wir sehr viel mehr Solar- und Windenergie dazubekommen. Die Kernkraftwerke gehen nach und nach vom Netz. Dann nehmen die Stromanteile zu, die fluktuieren, und diejenigen ab, die das Netz stabilisieren. Und das in einer Situation, in der die Netze nicht ausgebaut werden. Heute greifen die Leitstellen ständig ein, um die Netze stabil zu halten. Das war früher nie der Fall.

Die Netze sollen ja ausgebaut werden. Welchen Zeitraum muss man sich vorstellen?

Paulus: Trassenneubauten mit dem gesamten Verfahren haben in der Vergangenheit zehn bis 15 Jahre gedauert. Zurzeit sind auch einige geplant. Aber es gibt auch kritische Punkte, wo man mit wenigen Kilometern viel gewinnen kann, indem man Netze von Unternehmen miteinander verbindet. Wenn man diese Quertrassen hätte, könnte man Strom umleiten und eine deutliche Entlastung herbeiführen.

Bis wann kann die Energiewende weg von der Kernkraft abgeschlossen sein?

Paulus: In diesem Sinn sind die Kernkraftwerke nicht das Problem: Sie kann man auch durch Braunkohlekraftwerke ersetzen. Die Frage ist, ob man das will. Spannend ist eine andere Frage: Wird es uns gelingen, eine Struktur zu schaffen, in der das Netz stabil bleibt? Schaffen wir kleine Einheiten, die sich selbst versorgen, aber darüber ein Auffangnetz brauchen, über das im Zweifelsfall der Strom herkommt? Das Problem ist: Die Energiewende hat man nicht vom Ende her gedacht. Man muss sich überlegen, wie das optimale Szenario im Jahr X aussehen soll. Und zwar im Detail. Dann muss feststehen, wie viel Windkraft man im Norden hat, wie viel Wasserkraft und wie viele Solarfelder. Dann muss man rückwärts denken: Was braucht man, um dieses Szenario abzudecken? Großkraftwerke auf der Höchstspannungsebene, schnelle Gasturbinen für Lastsprünge, Speicherkapazitäten. Aber an dieser Stelle läuft das alles etwas unkoordiniert.

Wie kann man noch zu einem Gesamtkonzept kommen?

Paulus: Die Windkraft ist entscheidend, weil sie netzkonformer ist. Man muss den Windstrom, der später so üppig da sein wird wie der Solarstrom im Sommer, speichern: als Wasserstoff im Erdgas. Wenn dort die Aufnahmemöglichkeit überschritten ist, muss man den Wasserstoff in Methan umwandeln, allerdings mit einem schlechten Wirkungsgrad. Das wäre aber kein Problem, weil der Windstrom klimaneutral ist. Aber wir brauchen eine Autarkie nicht nur für zwei Sommermonate. Es werden oft Zahlen ins Feld geführt, dass es ja an 200 Tagen funktioniert. Das ist schön. Aber es muss an den anderen 165 im Jahr auch funktionieren. Im Zweifelsfall wird man Kohlekraftwerke vorhalten und bezahlen, um eine Reserve für den Winter zu haben. Das wird aber teuer. Das Land muss sich daher fragen: Können wir uns das leisten und wollen wir das?

Das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld wird 2015 abgeschaltet. Es ist der Bau eines Gaskraftwerks im Gespräch. Was halten Sie davon?

Paulus: An sich ist ein Gaskraftwerk an dieser Stelle eine gute Idee, weil das Höchstspannungsnetz eine Anbindung hat und die Gasleitung nicht weit weg liegt. Ich sehe ein anderes Problem: Die Zeiten, in denen ein Gaskraftwerk betrieben würde, werden aufgrund der bevorzugten Einspeisung regenerativer Energien so gering sein, dass kein Betreiber es für die erzielbaren Erlöse auf dem Markt bauen will. In der Vergangenheit haben die konventionellen Energien Windkraft und Sonnenenergie subventioniert, in Zukunft wird es umgekehrt sein müssen, zum Beispiel um ein Gaskraftwerk zu unterstützen.

Die Energiewende ist ja auch bei Ihnen an der FH in Schweinfurt spürbar. Ihre Studenten forschen an verschiedenen Projekten. Welche sind das?

Paulus: Für das Wüstenstromprojekt „Dersertec“ optimieren wir sogenannte Hochspannungsdurchführungen wärmetechnisch. Diese Bauteile, durch die der Strom durchgeführt wird, sind thermisch am höchsten belastet. Wenn sie versagen, versagt die ganze Kette. Beim zweiten Projekt geht es um Offshore-Windkraftanlagen. Wir machen Versuche und Simulationsrechnungen, um die Stromtragefähigkeit von Seekabeln zu erhöhen. Damit kann man mehr Strom durch die Leitungen schicken und muss die Anlagen nicht so oft abschalten.

„Es fehlt an Speicherkapazität“ – Experte Johannes Paulus.
Foto: W. Fuchs-Mauder | „Es fehlt an Speicherkapazität“ – Experte Johannes Paulus.
 
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