Am schönsten ist Rakoczy beim Promenadenkonzert am Sonntagvormittag. Das sieht die Masse der Besucher beim großen Heimatfest, das Bad Kissingen jedes Jahr am letzten Wochenende im Juli feiert, zwar offensichtlich nicht so. Denn die Masse zieht es eher zum Festzug am Sonntagnachmittag. Für Fotografen aber ist der Vormittag ungleich besser.
Der Unterschied liegt zunächst ganz platt an der Aufgabenstellung. Der fotobegeisterte Besucher möchte die historischen Persönlichkeiten, die Bad Kissingen zum Fest aufbietet, im Normalfall mal alleine, mal gepaart mit den eigens dafür angereisten Onkeln und Tanten pittoresk in Szene setzen. Beim Festzug ist das nicht so einfach. Der zwingt die Historischen, in einem fort weiter und immer weiter zu ziehen.
Beim Promenadenkonzert geht es leichter. Da bleibt die königliche und kaiserliche Monarchie des 19. Jahrhunderts samt Zar und Eisernem Kanzler gerne für ein Foto stehen. Selbst der im echten Leben bekanntlich schwermütige Märchenkönig ist da nicht mehr ganz so menschenscheu.
Den wichtigsten Unterschied zwischen Vormittag und Nachmittag, zwischen Festzug und Promenieren, macht der Ort des Geschehens. Der Festzug führt durch die Straßen der Innenstadt. Da gehören nicht gerade königliche Papierkörbe ebenso zur Kulisse wie die werbliche Zurschaustellung des neuesten Sortiments von Stützstrümpfen. Das Konzert dagegen findet im Kurgarten statt. Dort sitzt das Herz der Kissinger Kur. Es bietet in 200 Metern Umkreis alles, was ein ehemaliges Weltbad als Grundausstattung braucht. Für Fotografen bedeutet das: wunderbares Licht und stilvolle Hintergründe.
Begrenzt wird dieser Mikrokosmos des beschaulichen Gesundens im Westen und Süden von Arkadenbau und Wandelhalle. Von Osten her schauen Hotelfassaden auf Springbrunnen, Baumreihen und Blumen herab. Im Norden werben gleich hinter Zaun und Hecken kurtypische Geschäfte. Dazwischen entfaltet sich auf einer Fläche, die im Grunde nicht viel größer ist als die eines Fußballplatzes, ein Leben, das trotz seiner Betulichkeit kaum vielfältiger sein könnte.
Mehrmals täglich füllen und leeren sich die Wege und Bänke. Richtung Wandelhalle drängen zweimal am Tag die Anhänger gepflegter Unterhaltung zu den Konzerten des Kurorchesters. Wenn das Wetter danach ist und die drehbare Konzertmuschel zum Kurgarten weist, beschwingt die Musik vermutlich sogar noch die Schachspieler in der nordöstlichen Ecke der Anlage. Spricht das Wetter gegen Open-Air, können wenigstens die Gäste auf dem Weg zu jenen Wasserhähnen, von denen Rakoczy und Pandur ins Trinkglas plätschern, hören, wie die Geige in der Wandelhalle ihr Solo schluchzt.
In der Zeit zwischen den Konzerten sowie in den anderen Ecken des Kurgartens erfreuen sich darüber hinaus nicht nur Hobbybotaniker an den Arbeitsergebnissen der Kurgärtnerei. Die macht die Anlage zu Kissingens blühender Visitenkarte. Den Nektar daraus saugen nicht nur Kurgäste. Menschen, die in Kissingen wohnen und arbeiten, betrachten die Reize des Kurgartens nicht bloß zur Mittagspause als willkommene Mitnahmeeffekte. Denn selbst bei denen, die das jeden Tag haben können, entfaltet die seit Jahrhunderten erprobte Mischung aus Brunnen, Bäumen, Blumenpracht und benachbarter Baukunst ihre Wirkung.
Angelegt hat den Kurgarten in seiner ursprünglichen Form zwischen 1737 und 1744 der im nördlichen Franken fast schon unvermeidliche Balthasar Neumann. Der Platz dafür entstand zum Teil, weil Neumann, ebenfalls im Auftrag des Fürstbischofs Friedrich Karl von Schönborn, das Bett der Fränkischen Saale verlegte, was nebenbei zur Wiederentdeckung der nach einem ungarischen Freiheitshelden benannten Rakoczyquelle führte. Kurioserweise war besagter Freiheitsheld nicht ein einziges Mal in der Stadt. Er sei, lautet ein Erklärungsversuch, nur zum Namenspatron geworden, weil Veteranen der Kämpfe gegen ihn die Quelle für ebenso wild befanden wie seine Panduren.
Neumanns Anlage des Kurgartens hatte 100 Jahre Bestand. Dann kam Friedrich von Gärtner, um im Auftrag von König Ludwig I. von Bayern den Arkadenbau zu errichten. Damit „änderte sich der Charakter des Kurgartens völlig“, heißt es im Kissingen-Band der Reihe Denkmäler in Bayern. Aus zwei Teilen wurde einer. Laut Denkmalbuch entstand „eine baumbestandene Esplanade“. So nennt man mancherorts Promenaden vor größeren öffentlichen Gebäuden. „Gärtnerische Elemente“ fanden nur noch „innerhalb des Hufeisens“ des 1834 bis 1838 errichteten Arkadenbaus Platz.
In Details ist der Kurgarten seither zwar mehrfach überarbeitet worden. An der Grundanlage hat sich jedoch nichts mehr geändert. Dem Umstand, dass sie diese prägende Neugestaltung wie überhaupt das ganze Fundament des Ausbaus ihrer Stadt zum Weltbad Ludwig I. zugutehalten müssen, trugen die „dankbaren Bewohner der Stadt Bad Kissingen“, so die Sockelinschrift, 1891 mit der Aufstellung eines Denkmals an zentraler Stelle des Kurgartens Rechnung.
Als Ludwig I. König von Bayern war (1825-1848), wurde in Frankreich und England die Fotografie erfunden. Auch sie hat in den technischen Details Überarbeitungen erfahren. Grundsätzlich erfüllt sie aber noch die gleiche Aufgabe wie früher. Sie konserviert das kleine Glück, das Menschen empfinden, wenn sie sich mit prächtigen Blumenanlagen und vor historischen Bauten in Positur stellen. Nicht nur beim Rakoczyfest liefert der Kurgarten von Bad Kissingen dafür eine der schönsten Kulissen weit und breit.
Literatur zum Kurgarten
Der Bad-Kissingen-Band der Reihe Denkmäler in Bayern fasst zusammen, was der historisch interessierte Besucher über die Anlage selbst und die umgebenden Gebäude wissen sollte.
Stets zu empfehlen ist bei Themen rund um die Kissinger Kur der Autor Peter Ziegler. Unterhaltsam und verlässlich beschreibt er etwa in dem im Verlag Ferdinand Schöningh erschienenen „Prominenz auf Promenadenwegen“ Kaiser, Könige, Künstler und Kurgäste in ihren Bezügen zu Bad Kissingen und zeichnet damit zum Teil auch die bauliche Geschichte der Stadt nach.
Wer über Kur und Weltbadzeit hinaus Einblick in die Historie von Deutschlands bekanntestem Kurort gewinnen will, findet dazu in „1200 Jahre Bad Kissingen – Facetten einer Stadtgeschichte“ reichlich Material.
ONLINE-TIPP
Alle bisher erschienenen Artikel und Bilder zur Gartenserie: www.mainpost.de/gartenserie