Charlotte Knobloch, 1932 in eine jüdische Münchner Familie geboren, hat den Holocaust überlebt, weil eine ehemalige Hausangestellte ihres Onkels sie mit in ihr Heimatdorf im Mittelfränkischen nahm und Gerüchte, das kleine Mädchen sei ihre uneheliche Tochter, nie dementierte. Und das, obwohl sie, eine zutiefst fromme Katholikin, eigentlich als Haushälterin für ihren Bruder, einen Pfarrer, vorgesehen war. „Mir tun heute noch die Knie weh, wenn ich an die Holzbänke in der Kirche denke. Ich musste jeden Tag dahin, und damals kniete man dauernd“, erzählt Charlotte Knobloch.
Das Schweinfurter Bayernkolleg hat die heute 81-Jährige für seine Veranstaltungsreihe „Zeitzeugengespräch“ eingeladen. Am Eingang werden die namentlichen Anmeldungen der Gäste überprüft, zwei Uniformierte stehen bereit, zwei Personenschützer begleiten Charlotte Knobloch in den Saal – Indiz dafür, dass öffentliche Auftritte zumindest für so prominente jüdische Mitbürger wie sie nicht ohne Risiko sind.
Charlotte Knobloch ist – wie viele bekannte Menschen, deren Stärke selbst auf Fotos und Bildschirmen zu spüren ist – im echten Leben kleiner als angenommen. Zierlich, kerzengerade und hoch konzentriert stellt sie sich den Fragen der kleinen Talkrunde mit Schulleiter Peter Rottmann und Fachbetreuer Walter Lenhard und der Gäste im Saal, zum Großteil Bayernkolleg-Schüler, also junge Erwachsene. Fragen, die für sie auch nach all den Jahren nicht immer leicht zu beantworten sind. „Am Anfang war es sehr schwer, über die Vergangenheit zu reden“, sagt sie, „da bin ich vor Schulklassen gesessen und konnte mich gar nicht mehr beruhigen.“
Am Anfang – das war, als ihre drei Kinder sie nicht mehr brauchten und sie anfing, sich in der Israelitischen Kultusgemeinde zu engagieren. Bis dahin wussten die Kinder kaum etwas von der Vergangenheit ihrer Eltern – und sie fragten auch nie. Nicht nach den Erlebnissen des Vaters in mehreren Konzentrationslagern, nicht nach ihrer Großmutter mütterlicherseits, also Charlotte Knoblochs Mutter, die ihrem Ehemann zuliebe zum Judentum übergetreten war, sich aber dann auf Druck der Nazis von der Familie lossagte. Vieles ist in Knoblochs 2012 erschienenen Erinnerungen „In Deutschland angekommen“ nachzulesen. Der Titel ist Programm: „Ich bin so froh, dass wir in Deutschland geblieben sind, dass ich noch erleben konnte, dass es in diesem Land wieder jüdisches Leben gibt. Dass ich daran mitwirken konnte, macht mich sehr stolz.“
Aufgeben war für Charlotte Knobloch nie eine Option. Weder im unermüdlichen Kampf gegen Vorurteile, Ausgrenzung und Diffamierung („Das einzige Rezept ist Dialog“), noch in ihrem jahrzehntelangen Engagement für eine neue Hauptsynagoge in München. Die Synagoge wurde 2006 eröffnet. „Bei der Grundsteinlegung drei Jahre zuvor dachte ich: So, jetzt habe ich meine Koffer ausgepackt.“
Das Durchhalten habe sie wohl als Kind auf dem Bauernhof gelernt, sagt sie. Als sie in ein Umfeld geworfen wurde, in dem alles anders und weitaus weniger angenehm war als zu Hause in München. Als sie, die Zehnjährige, schon wusste, dass sie auf keinen Fall auffallen durfte. „Ich habe damals viel geweint. Aber so, dass es keiner gesehen hat.“ Denn die reibungslose Anpassung war die einzige Garantie, nicht doch noch abgeholt zu werden.
Wie sie das Wiedererstarken des Antisemitismus in Europa sieht, möchte ein junger Mann mit Verweis auf Dieudonné, Grass und Ungarn wissen. Sie antwortet gleichermaßen kämpferisch wie gelassen: „Antisemitismus hat es immer gegeben, und er wird auch weiter existieren. Aber er ist kein Verbrechen an den Menschen. Ich bin immer dazu bereit, Menschen, die anderer Meinung sind, im Gespräch zu überzeugen, dass er ein Fehler ist. Natürlich muss man ihn bekämpfen. Man darf sich das nicht gefallen lassen. Aber dass er existiert, und dass man damit leben muss, das weiß ich auch.“
Dass ihre Kinder hier ganz ohne Ausgrenzung aufwachsen konnten, hat ihr geholfen, sich mit Deutschland und letztlich mit dem Leben zu versöhnen: „Ich hatte den Glauben an die Menschen verloren. Und mit dem Thema habe ich heute noch meine Probleme, das muss ich leider sagen.“ Es habe sehr viel Kraft und Überwindung gekostet, sich wieder in das Leben einzureihen. In den 50er- und 60er-Jahren seien die verbliebenen Juden in Deutschland kaum in Erscheinung getreten. „Man wusste, es gab sie, aber man kannte sich nicht. Dass man dann plötzlich wieder da war, wurde nicht immer gleichbleibend positiv aufgenommen“, sagt sie trocken.
Aber so wichtig es ihr ist, dass die Geschehnisse der Nazizeit – die Grausamkeit der Täter, die Gleichgültigkeit der Mitläufer wie auch der Mut derer, die halfen – nicht in Vergessenheit geraten: „Wir dürfen uns nicht über die Vergangenheit definieren. Wir müssen Gegenwart und Zukunft gestalten. Ich liebe mein Land, und ich würde den jungen Leuten raten, das auch zu tun.“
Charlotte Knobloch
Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ist Charlotte Knobloch, geboren am 29. Oktober 1932 in München, seit 1985. Außerdem ist sie Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses. Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie ist die Tochter des Rechtsanwalts Fritz Neuland. Ihre Mutter Margarethe, die ihrem Mann zuliebe zum Judentum übergetreten war, trennte sich 1936 auf Druck der Nazis von der Familie. Charlotte wurde dann von ihrer Großmutter erzogen, die 1944 im KZ Theresienstadt ermordet wurde. Die ehemalige Hausangestellte ihres Onkels, Kreszentia Hummel, rettete Charlotte vor dem Holocaust. Sie brachte das Mädchen zum Bauernhof ihrer katholischen Familie ins mittelfränkische Arberg, wo die damals Zehnjährige als Hummels uneheliches Kind galt. 1945 kehrte sie mit ihrem Vater nach München zurück. 1951 heiratete sie den polnischen Juden Samuel Knobloch, einen Überlebenden mehrerer Konzentrationslager. Das Paar wollte nach Amerika auswandern, ließ den Plan aber nach der Geburt der ersten beiden Kinder fallen. Text: Maw