Er war einer der ersten Fußballer bei Borussia Dortmund, die ihre Wurzeln nicht im Ruhrgebiet hatten. Er war gar der allererste Fußballer, der im Aktuellen Sportstudio auf die Torwand schießen durfte. Doch das alles war ihm nie wichtig. Siggi Held weiß heute nicht einmal mehr, ob er am 5. Februar 1966 an der Torwand einmal, zweimal oder gar nicht getroffen hat. Erster zu sein, das zählte für ihn, den immer Ehrgeizigen, einzig und allein im Wettkampf. „Wenn halt Vize davor steht, ist das nicht so schön“, sagt er.
Nicht so schön war das besonders 1966 im Londoner Wembley-Stadion, wo er, der damals 23-Jährige, mit der deutschen Mannschaft den Engländern im WM-Endspiel mit 2:4 unterlag. Zutiefst enttäuscht war er, denn mit nach Hause gebracht hat er nicht den Coupe Rimet aus feinem Silbersterling, sondern nur eine silberne Plakette und das verdreckte Trikot seines Gegenspielers Jack Charlton. Über das berühmt-berüchtigte „Wembley-Tor“ will er sich auch fast 47 Jahre danach kein endgültiges Urteil erlauben
obwohl er davon überzeugt ist: kein Tor. Er war nicht in unmittelbarer Nähe gewesen, aber beobachtet hat er den russischen Linienrichter Bahramov, der nach Befragen des Schweizer Referees Dienst auf Tor entschieden hatte. „Die Reaktion des Linienrichters war ganz seltsam“, erinnert sich Held, „er ist nicht, wie das damals bei einem Tor üblich war, zur Mittellinie gerannt, sondern stehen geblieben.“ Dieses Verhalten sei sehr merkwürdig gewesen, schildert Siggi Held aus seiner Sicht seine größte sportliche Enttäuschung, die legendäre 101. Spielminute, die in die Geschichte einging.
In die Geschichte einging wie das dramatische WM-Halbfinale 1970 gegen Italien vor 102 000 Zuschauern im Glutofen Aztekenstadion in Mexiko, das sie auf dem Stiefel heute noch rühmen als „partita del secolo“, als Jahrhundertspiel. 3:4 nach Verlängerung unterlagen die Deutschen bekanntlich mit dem in der 63. Spielminute für Verteidiger Bernd Patzke eingewechselten Siggi Held, dessen böser Schnitzer den Italienern das zwischenzeitliche 3:2 durch Luigi Riva ermöglichte. „Ein denkwürdiges Spiel, in dem uns allen zu viele Fehler unterlaufen sind“, erinnert sich Siggi Held an das wohl aufregendste seiner 41 Länderspiele.
Der dribbelstarke und pfeilschnelle Stürmer war 1965 vom Regionalligisten Kickers Offenbach zu Borussia Dortmund gekommen und dort in einer Blitzkarriere „von Null auf Hundert“ (Held) gestartet. In der Saison 65/66 wurde er Nationalspieler, WM-Teilnehmer und feierte seinen größten sportlichen Triumph, den Europapokalsieg. „In Dortmund hat sich die große, weite Welt des Fußballs für mich geöffnet“, sagt der heute 70-Jährige. Zusammen mit Lothar Emmerich († 2003) und Reinhart „Stan“ Libuda († 1996) hat er Fußball-Europa sprichwörtlich im Sturm erobert. Nach den Halbfinalsiegen gegen Titelverteidiger West Ham United bezeichneten englische Zeitungen Held und Emmerich als „terrible twins“, als schreckliche Zwillinge. Und spätestens nach dem 2:1-Finalsieg gegen den FC Liverpool in Glasgow, wo Held den Führungstreffer und Libuda das Siegtor erzielten, war der Traum verwirklicht. Als erste deutsche Mannschaft überhaupt hatten die Borussen einen europäischen Wettbewerb gewonnen.
Maßgeblich beteiligt: Siggi Held und Lothar Emmerich, die blendend miteinander harmonierten. Seit 1960 spielte Emmerich bei der Borussia, aber zum „Knipser“ wurde er erst, als 1965 Sigi Held zur Mannschaft kam. Dass „Emma“ mit seiner linken Klebe mehr als die Hälfte aller Dortmunder Europapokal-Tore erzielte, verdankte er vor allem Helds genialen Pässen. 1966 und 1967 erhielt Emmerich die Torjäger-Kanone als bester Torschütze der Bundesliga – auch dank seines kongenialen Partners.
Bundeskanzler Ludwig Erhard kam nach dem Europapokalsieg nach Dortmund und ehrte vor dem entscheidenden Meisterschaftsspiel gegen den TSV 1860 München die Helden von Glagow. Das allerdings wirkte sich offenbar leistungshemmend aus. Die Borussia verlor gegen die Löwen mit 0:2 und verspielte somit den Titel.
Das konnte einige Tausend begeisterte Menschen nicht davon abhalten, Held und Emmerich in Marktheidenfeld herzlich willkommen zu heißen. Der berühmte Sohn der Stadt wurde beim Autokorso durch die Straßen und beim Empfang auf dem Marktplatz zusammen mit „Emma“ wie ein Popstar gefeiert. Hier hatte die aus dem Sudetenland stammende Familie mit dem vierjährigen Siegfried nach den Kriegswirren eine neue Heimat gefunden. Hier hatte er bis zu seinem Wechsel nach Offenbach 18 Jahre verbracht, in einer Steuerkanzlei einen Beruf erlernt – und natürlich Fußball gespielt. Anfangs als Bub mit der Blechdose auf der Wiese vor den Notunterkünften in der Düsseldorfer Siedlung, später auf dem Sportplatz des TV Marktheidenfeld. „Fußball war unsere einzige Freizeitbeschäftigung“, sagt er.
Erst als er 15 war, hat ihm die Oma die ersten Fußballschuhe geschenkt, welche für 30 Mark mit roten Schnürsenkeln, wie er heute noch weiß. In Marktheidenfeld hat er als Torwart angefangen, ehe es ihm zu langweilig wurde, „weil wir gegen die umliegenden Dorfvereine immer so hoch gewonnen haben“. Hier hat er später serienweise Tore geschossen, bis sie am Bieberer Berg auf ihn aufmerksam wurden und er, der die 100 Meter unter elf Sekunden rennen konnte, fortan für 160 Mark Grundgehalt für Kickers Offenbach stürmte und nebenher noch seinen Dienst bei der Bundeswehr in Hammelburg verrichten musste.
Sein damaliger Trainer Hans Merkle kam einmal in der Woche sogar in die Kaserne und absolvierte mit seinem Spieler in der Mittagspause eine Trainingsstunde. Und wenn der Gefreite Held mal am Wochenende Dienst schieben musste, zeigte sich der Kompaniechef gar uneinsichtig. Da könnte ja jeder Hasenzüchterverein kommen, habe der Dienstherr wissen lassen. Die Folge: Für den Bereitschaftsdienst musste ein Ersatzmann besorgt werden, der 50 Mark erhielt, damit Held fürs Fußballspielen frei bekam.
Wer Siggi Held heute begegnet, sieht sich einem Menschen gegenüber, dem jeglicher Starkult fremd ist. „Für das, was gewesen ist, gibt es nichts mehr. Heute ist heute“, betont er und widerspricht energisch dem Glauben, dass früher vieles besser gewesen sei: „Das stimmt ganz einfach nicht, das Gegenteil war ja der Fall.“ Er mag es partout nicht, wenn die Vergangenheit allzu sehr glorifiziert wird, und nennt Beispiele: Beim Europokalfinale in Glasgow war das Stadion – heute unvorstellbar – nicht einmal ausverkauft. Und später, nach der Rückkehr ins Hotel, hatte die Küche schon geschlossen. „Gut, dass einer unserer Betreuer noch eine Salami dabei hatte, sonst hätte wir damals nicht einmal was zu essen gehabt“, erinnert sich Held.
Das Training sei früher kontraproduktiv gewesen. Sportwissenschaftliche Erkenntnisse hätten keine Rolle gespielt. „Wir sind gelaufen, bis wir gebrochen haben“, schildert er die irrsinnige Schinderei. Und die Spiele seien auch wesentlich härter als heute geführt worden. Held spricht, ohne Namen zu nennen, in diesem Zusammenhang von „Ein-Mann-Torpedos“, die als Sonderbewacher eingesetzt worden seien, um gezielt gegnerische Spieler zu eliminieren. Dass er als trickreicher Stürmer alle seine 422 Bundesligaspiele ohne schlimmere Verletzungen überstand, erklärt er mit „Glück und Geschick“.
„Schauen Sie heute unsere schöne Arena an, was für ein Unterschied zu früher“, meint Siggi Held und erzählt von fürchterlichen Bedingungen im alten Stadion „Rote Erde“. Die Platzverhältnisse seien mitunter miserabel gewesen, das Flutlich bezeichnet er als „Funzel“, zudem hätten viele Zuschauer Stehplätze gehabt, von denen sie kaum was erkennen konnten. „Nein, früher war wirklich nicht alles schöner und besser“, sagt Siggi Held. Einer wie er, der als Spieler 16 Bundesliga-Jahre auf dem Buckel hat, sollte es wissen.
Erst mit 38 Jahren hat er die Schuhe an den Nagel gehängt. Nach dem Abstieg mit Bayer Uerdingen war Schluss. Uerdingen bot ihm noch einen Jahresvertrag an, doch der lehnte ab. Es hatte sich nämlich ergeben, dass Schalke-Manager Rudi Assauer einen Trainer suchte. Einer wie Siggi Held, der die Trainerlizenz mit der Note 1,0 erworben hatte, schien der Richtige zu sein. Doch der Start im Trainergeschäft verlief trotz der Rückkehr der Knappen in die erste Liga holprig, nach nur eineinhalb Jahren erfolgte die Trennung. Die Freundschaft zu Assauer leidet bis heute darunter.
Held wurde zum Weltenbummler. Er trainierte Galatasaray Istanbul, wurde mit Admira/Wacker Wien österreichischer Meister, saß bei Dynamo Dresden, beim VfB Leipzig und in Japan bei Gamba Osaka auf der Trainerbank. Zudem war er Nationalcoach in Island, Malta und Thailand.
Siggi Held, der mit seiner ebenfalls aus Marktheidenfeld stammenden Frau Christel in Dortmund zu Hause ist, als Fan-Beauftragter die Borussia repräsentiert und sich mit Tennis- und Golfspielen fit hält, gilt als Mann der leisen Töne. Doch ein „großer Schweiger“, wie er in der Öffentlichkeit häufig dargestellt wird, ist er keineswegs. „Diese Bezeichnung hat man mir nur angehängt, weil ich den neugierigen Journalisten nie etwas aus der Kabine erzählt habe. Aber ich habe immer gesprochen, wenn es was zu sagen gab.“
Der Fußball habe ihm enorm viel gegeben, „ich habe in ihm meine Erfüllung gefunden“, blickt er nach einer Stimmband-OP mit leicht sonorer Stimme auf seine sportliche Karriere zurück. Eine bewegende Karriere, die jetzt auch als Taschenbuch („Rund um den Ball – Erinnerungen“) erschienen ist.
Zur Person
Siegfried Held, geboren am 7. August 1942 in Freudenthal im Sudetenland, kam als Vierjähriger mit seiner Familie nach Marktheidenfeld, kickte dort für den TV Marktheidenfeld, ehe er als 21-Jähriger 1963 zum Regionalligisten Kickers Offenbach wechselte. Danach spielt er für Borussia Dortmund, Preußen Münster und Bayer Uerdingen in der Fußball-Bundesliga und erzielte in 422 Spielen insgesamt 72 Tore. In seiner erfolgreichsten Saison 1965/66 wurde er mit Borussia Dortmund hinter dem TSV 1860 München deutscher Vizemeister und errang mit seinem Vereinsteam im Endspiel gegen den FC Liverpool den Europapokal der Pokalsieger. In der Nationalmannschaft schoss Held in 41 Spielen fünf Tore. 1966 wurde er Vize-Weltmeister und 1970 WM-Dritter in Mexiko. Nach der Zeit als Fußball-Profi wurde er Trainer und erlebte eine wechselvolle internationale Karriere als Vereinscoach bei Schalke 04, BV Lüttringhausen, Galatasaray Istanbul, FC Admira/Wacker Wien, Dynamo Dresden, Gamba Osaka (Japan) und VfB Leipzig. Er war Trainer der Olympia-Auswahl Ägyptens sowie Nationaltrainer in Island, Malta und Thailand. Seit 2007 ist er bei seinem erklärten Lieblingsverein Borussia Dortmund Fanbeauftragter.