zurück
Beyoncés Überraschung
Steffen Rüth
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:34 Uhr

Einen größeren Knaller hat die Musikbranche in diesem Jahr nicht erlebt. Üblicherweise werden neue Alben von globalen Superstars Monate im Voraus angekündigt und fleißig mit allen einschlägigen Mitteln und oft sehr viel Geld beworben. Doch als die Mitarbeiter von Sony Music in München am Freitag, 13. Dezember, in Erwartung eines Routinearbeitstages ihre Rechner hochfuhren, waren sie genau so verblüfft wie alle anderen. Sonys kommerziell erfolgreichste Künstlerin der vergangenen 15 Jahre, Beyoncé Knowles, hatte um Schlag Mitternacht New Yorker Ortszeit ihr neues Album veröffentlicht.

Da war es nun in seiner ganzen Pracht, und zwar exklusiv bei iTunes. Seit 20. Dezember gibt es das Werk aber auch als CD und bei den übrigen Downloadanbietern zu kaufen.

Nein, lässt die Plattenfirma verlauten, man habe das nicht gewusst. Angeblich wussten weltweit nur etwa zehn Personen überhaupt über den exakten Erscheinungsmoment von „Beyoncé“ Bescheid. „Ich wollte einfach die Musik rausbringen, sobald fertig ist“, so Knowles in einem Statement, „und zwar auf direktem Wege von mir zu den Fans.“

Derartige Ad-Hoc-Veröffentlichungen von unter großer Geheimhaltung produzierten Alben lagen zwar dieses Jahr im Trend. Justin Timberlakes Comeback kam ziemlich spontan, und speziell die Rückkehr des David Bowie hatte kaum jemand auf dem Schirm gehabt. Aber betrug die Vorwarnzeit bei Bowies Album „The Next Day“ noch zwei Monate, so war sie bei „Beyoncé“: null Sekunden.

Natürlich, es hat gewisse Indizien gegeben. Neue Songs und Songschnipsel tauchten gelegentlich auf, das Album an sich war ursprünglich schon für den Sommer angekündigt gewesen, bevor es hieß, Knowles sei noch unsicher wegen der künstlerischen Ausrichtung. Man wusste auch, es gab ein großes Songschreiber-und Produzenten-Camp in den Hamptons. Beyoncés Ehemann, der Rapper Shawn Carter alias Jay Z, veröffentlichte im Sommer sein aktuelles Werk „Magna Carta“ ebenfalls sehr kurzfristig und zunächst exklusiv für die Kunden eines koreanischen Handyherstellers.

Spätestens, als für den März weitere Termine der „Mrs. Carter“-Tournee bekannt gegeben wurden, hätte es klingeln können – denn ohne neue Songs wäre Beyoncé wohl kaum ein zweites Mal innerhalb von neun Monaten nach Deutschland gekommen.

Ein Album mit Herz und Seele

Doch nicht nur die plötzliche Veröffentlichung, auch das neue Album ist eine Überraschung. Es hat nicht nur Hand und Fuß, sondern auch Herz und Seele. Man staunt: Zu den 14 Songs gesellen sich gleich 17 Videos – das bereits zuvor bekannt gewordene „Grown Woman“ als Bonusvideo, zwei Songs bekamen je zwei Clips. Gedreht wurden die Musikfilmchen von Könnern wie Jonas Akerlund, Hype Williams und Terry Richardson während der diesjährigen Tour unter anderem in Rio, Sydney und Paris.

Das Video zum ersten Song „Pretty Hurts“ etwa spielt bei einem Schönheitswettbewerb in Knowles‘ Geburtsort Houston, man sieht Mädchen, wie sie sich den Finger in den Hals stecken, Pillen schlucken, es ist auf surreal bezaubernde Weise unappetitlich. Wenn die makellos schöne und bestens proportionierte Beyoncé mit Zeilen wie „Perfection is a disease of a nation“ oder „It’s the soul that needs the surgery“ gegen Schönheitswahn und Selbstoptimierung ansingt, ist das nicht ohne Ironie, und mancher mag es zynisch finden. Aber die Botschaft kommt an, da Beyoncé als integer gilt – sie gilt als extrem strebsam, aber kommt offenbar ohne Skandale, Affären oder Drogen aus und scheint sich eine Restbodenhaftung bewahrt zu haben.

Ihrem Ruf als gemäßigter Feministin, den sie bereits mit Destiny’s Child pflegte, wird sie mit „Flawless“ gerecht, das ursprünglich „Bow Down Bitches“ hieß, zu den schnellsten und am klarsten HipHop-orientierten Nummern zählt und einen Auszug aus einer Rede der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie enthält, die Frauen zu mehr Mut, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein aufruft.

Ansonsten wird auf „Beyoncé“ sehr viel, tendenziell ein bisschen zu viel, kopuliert. Ein Song nach dem anderen kreist um die Großartigkeit von Knowles‘ monogamem Sexleben, sie feuert eine Metapher nach der anderen ab, es gibt Anspielungen an einen Wasserfall („Rocket“), einen Likör, der sie geil macht („Partition“), und in „Drunk on love“, dem Duett mit Jay Z, in dessen Video sich Beyoncé am Strand kaum bekleidet räkelt und windet, wird aus dem Namen Monica Lewinsky ein Verb.

Es war ja nicht unbedingt zu erwarten, dass dieses Album stilistisch eine durchgängige Stimmung, ein Konzept, eine Idee haben würde. Umso erfreulicher, dass genau dies der Fall ist. Obwohl zahllose Komponisten und Produzenten beteiligt waren – darunter viele Topleute wie Pharrell Williams, Timbaland, Ryan Tedder, Sia Furler – ist die Musik auf „Beyoncé“ schlüssig und konsequent. Es gibt ein paar hymnisch-dramatische Groß-Pop-Nummern wie „Pretty Hurts“, das an „Halo“ erinnernde „XO“ oder den letzten Song „Blue“. Töchterchen Blue Ivy, die im Januar zwei Jahre alt wird, brabbelt hier brav den Refrain „Hold on to me“ mit und sorgt für einen der wenigen Momente, in denen aus Kunst Kitsch wird.

Warm, weich, erotisch

Ganz überwiegend setzt Beyoncé jedoch auf Subtilität. Ja, es ist wirklich wahr. Diese Lieder springen dem Hörer nicht mit dem Arsch ins Gesicht, sie hüpfen nicht nach einem scheinbaren Zufallsprinzip zwischen unterschiedlichen Tempi hin und her. Diese Platte ist warm und weich, sie ist beinahe elegisch. Und nicht zuletzt deshalb weit erotischer als alles, was Miley Cyrus, Rihanna, Lady Gaga oder selbst Madonna in den letzten Jahren abgeliefert haben.

Der auf „Beyoncé“ dominierende Stil ist eine moderne, elektronische Variante von R&B und Soul, die Anzahl der Beats pro Minute eher niedrig als hoch. Der Einsatz von Synthesizer und Klavier ist sehr großzügig, dagegen ist kaum etwas von den sonst oft Powerballaden-Alarm auslösenden Streichern zu hören.

Wahrscheinlich hätte man die eine oder andere Midtempo-Schlafzimmersoul-Electroballade streichen können, das lahme Drake-Duett „Mine“ vielleicht. Doch wenn es mal flott wird, so wie in der 80ies-Prince-Rollerdisconummer „Blow“, dann wird es gleich umso lustiger und auch mal tanzbar.

„Beyoncé“ ist durchdacht, originell und substanziell. Ein Marketing-Coup und ein künstlerischer Triumph.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Beyoncé Giselle Knowles
David Bowie
Justin Timberlake
Lady Gaga
Miley Cyrus
Monica Lewinsky
Rihanna
Sony
Sony BMG
Wirtschaftsbranche Musik
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen