Blutrünstige Mutanten verfolgen amerikanische Teenager, und am Ende bleibt nicht viel von den jungen Leuten übrig. Ein Moskauer Kriminalist klärt in verstrahltem Gelände den Tod zweier Oligarchen durch radioaktives Cäsium auf. Eine deutsche Popband widmet einer Stadt ihr aktuelles Album und zeigt sie in einem YouTube-Video. In einem Killerspiel bilden Fotos leerer Häuser den schaurigen Hintergrund der Handlung.
Immer geht es um dieselbe Stadt: Pripjat, direkt neben den vier Reaktoren des AKW Tschernobyl (englisch Chernobyl) erbaut und am 27. April 1986, 36 Stunden nach der Katastrophe, vollständig evakuiert.
Hier lebten 49 000 Menschen, die meisten arbeiteten im AKW. Pripjat (englisch Pripyat) war eine moderne Stadt mit vorbildlichen Einrichtungen, besser mit Waren versorgt als der Rest der Sowjetunion; das Durchschnittsalter der Bewohner betrug 26 Jahre. Wären, wie geplant, acht weitere Reaktoren in Betrieb gegangen, hätte sich die Bevölkerungszahl fast verdoppelt.
Die tote Stadt Pripjat ist heute als weltweites kulturelles Phänomen lebendiger denn je. Der amerikanische Horrorfilm „Chernobyl Diaries“, der an diesem Donnerstag startet, ist nur ein Beispiel dafür. Wie das verschüttete Pompeji, das in Filmen, TV-Serien und Romanen immer wieder beschworen wird, erregt das Schicksal Pripjats, das in einem infernalischen Dornröschenschlaf liegt, die Phantasie der Menschen.
Seit einigen Jahren erlaubt der ukrainische Staat Touristengruppen den Besuch in der streng bewachten 30-Kilometer-Zone um den havarierten Reaktor 4, der derzeit für 1,5 Milliarden Euro eine neue Schutzhülle bekommt – eine bewegliche Halle, die 2015 über den alten Sarkophag geschoben wird.
Spektakulär ist der Verfall der Stadt: Bäume wachsen auf Straßen und in Häusern, der Wald erobert sich die Außenbezirke zurück, hohe Gebäude verschwinden hinter grünen Vorhängen, eines ist schon eingestürzt.
Ebenso spektakulär ist, dass unzählige Menschen sich in Pripjat mit der Knarre in der Hand auf die Jagd nach Mutanten machen, die die Radioaktivität hervorgebracht hat. Das Grafikdesign des Egoshooter-Spiels „S.T.A.L.K.E.R.“ beruht auf Fotos, die in der Geisterstadt entstanden. Die Spieler kämpfen mit Monstern, bis im Mittelpunkt der Zone das tödliche Aus oder der Sieg des Guten auf sie wartet. Ein Beispiel für die Kommerzialisierung von Katastrophen und ihren Schreckensbildern.
Die mediale Verwertung trägt bisweilen auch weniger krasse Züge. So sind Bilder aus Pripjat auf aktuellen YouTube-Videos der britischen Band Delphic („This Momentary“) und der nordirischen Rockgruppe Ash („Pripyat“) zu sehen. Die ukrainische Metal-Band Delia hat mit Anastasia Sverkunova eine Sängerin, die kurz vor der Katastrophe in Pripjat zur Welt kam. Das Video zum Song „Dead City“ entstand teilweise an ihrem Geburtsort, und natürlich ist auch das Riesenrad zu sehen, das am 1. Mai 1986 in Betrieb gehen sollte, sich aber nie drehen durfte. Es ist zum Symbol für den gespenstischen Katastrophenort Pripjat geworden.
Noch einen Schritt weiter ging 2011 die deutsche Synthie-Pop-Gruppe nova-spes, als sie eine komplette CD über „pripyat – home of lilith“ herausbrachte. Am Anfang hört man den originalen Evakuierungsaufruf in russischer Sprache, dann beginnt ein Geigerzähler zu knarzen. Im dazugehörigen YouTube-Video sind fröhliche Kinder im Schwimmbad, auf einem Spielplatz und bei einer Theateraufführung zu sehen. Ein Hochzeitspaar küsst sich, dann rollen Panzer an mit Soldaten, die sich mit Atemmasken geschützt haben, während die Bewohner die verseuchte Luft noch ungefiltert einatmen. In einer leeren verwüsteten Wohnung liegt eine Puppe auf dem Boden.
Die Lilith des Titels ist übrigens die sagenumwobene Königin des Bösen und Mutter zahlreicher Dämonen. Ganz ohne Horror-Elemente kommt auch nova-spes nicht aus.
Der Roman „Wolves eat Dogs“ (deutscher Titel „Treue Genossen“, 2005) des amerikanischen Autors Martin Cruz Smith verwebt extrem wirkungsvoll eine fiktive Krimihandlung um den aus „Gorki Park“ bekannten Kommissar Arkady Renko mit dem Geschehen von 1986 und seinen Nachwirkungen. Zwei Männer sind im neuen Russland zu sagenhaftem Reichtum gekommen, doch sie waren in die anfängliche Vertuschung der Havarie verwickelt. Jetzt lässt sie ein unbarmherziger Racheengel jenen Tod sterben, den viele verstrahlte Bewohner von Pripjat erlitten, ebenso wie die Liquidatoren, die das Feuer im Reaktor löschten und radioaktives Material entfernten.
Vor einem Jahr kam der Spielfilm „An einem Samstag“ heraus, der auch im Wettbewerb der Berlinale lief. Der 26. April 1986 war ein Samstag, und obwohl schon radioaktive Partikel auf Pripjat herabregneten, zögerten die Behörden zunächst mit der Evakuierung. Der Film zeigt einen jungen Kommunisten, der die Verlogenheit der Herrschenden erkennt, mit seiner Freundin den Zug verpasst, der beide wegbringen soll, und der die letzte Nacht in der Stadt trinkend, lachend und tanzend erlebt. Es ist auch das Lachen der Verzweiflung.
Die schlüssigste künstlerische Verarbeitung der Katastrophe gelang sieben Jahre bevor sie überhaupt passierte. 1979 kam der russische Spielfilm„Stalker“ von Andrej Tarkowskij heraus. Heute versteht man unter einem Stalker einen Menschen, der andere verfolgt, bei Tarkowskij ist es ein Ortskundiger, der einen Wissenschaftler und einen Schriftsteller trotz des Verbots in eine streng bewachte „Zone“ bringt, eine mysteriöse verfallene Industrielandschaft, in der sich eine große Katastrophe ereignet hat.
Die rätselhafte Wildnis wird von einer namenlosen, tödlichen Gefahr beherrscht. Die extrem suggestiven Stimmungen des Films lassen sich nahtlos auf das evakuierte Gebiet rings um Pripjat übertragen und brachten die Schöpfer des Egoshooter-Spiels dazu, den Titel in abgewandelter Schreibung zu übernehmen. Wenn das Riesenrad das technische Symbol für den Tschernobyl-GAU ist, so ist es der Stalker als Person, auch wenn er viele Jahre davor Gestalt annahm.
Die Stadt Pripjat, in deren Nachbarschaft sich die größte technologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts ereignete, ist heute zu einem Gedenkort der Anti-Atomkraft-Bewegung geworden, und es gibt ernsthafte Bestrebungen, sie als Mahnmal in die Welterbe-Liste der UNESCO aufzunehmen.
Der aktuelle Horrorfilm „Chernobyl Diaries“ wird dies nicht befördern, aber jedenfalls wird er erneut die Aufmerksamkeit auf jenen Unglücksort lenken. In den USA, wo „Chernobyl Diaries“ schon läuft und eher mäßige Kritiken erhielt, ist eine Debatte darüber entflammt, ob der Streifen das Schicksal der Atom-Opfer ausbeutet. „Was würden wir sagen, wenn die Trümmer des World Trade Center als Kulisse für einen Horrorfilm dienen würden?“, fragte ein Kritiker.
Klar ist: Der wahre Horror von Pripjat und Tschernobyl ist nicht der Kampf gegen fiktive Mutanten, sondern das in Büchern und Dokumentarfilmen geschilderte tatsächliche Leid der Opfer. In einem Band mit Augenzeugenberichten zitiert Setlana Alexijewitsch einen Arzt, der die Frau eines sterbenden Liquidators warnt: „Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, er ist ein verseuchtes Objekt.“ Dagegen verblasst selbst Shakespeare, schreibt die Autorin.
Für Hollywoods Horror-Fabrik ist so etwas natürlich erst recht kein Stoff.
Bücher zu Pripjat und Tschernobyl
Swetlana Alexijewitsch, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, Berliner Taschenbuch-Verlag, 3. Aufl. 2011 (Augenzeugenberichte).
Merle Hilbk, Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben, Eichborn, 2011 (Reise durch die Zone).
Andrej Krementschouk, Chernobyl Zone (I), Kehrer, 2011 (Fotos von Dörfern in der Zone und illegalen Rückwandern); Chernobyl Zone (II), Kehrer, 2011 (Fotos aus Pripjat und kurze Essays).