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Bekenntnisse eines Wirrkopfs
Von unserem Redaktionsmitglied Rainer Stumpf
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:29 Uhr
Ochsenfurt Ehemalige NS-Größen sollen nach dem Zweiten Weltkrieg in Ochsenfurt Unterschlupf gefunden haben, ehe sie nach Südamerika geschleust wurden. Ein Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) nennt als Drehscheibe des Transfers den Namen einer angesehenen Ochsenfurter Familie. Das Problem: Die Geschichte ist erstunken und erlogen. Die Betroffenen sind entsetzt, dass die FAZ ohne nachzufragen, diesen Bericht veröffentlicht hat.

 

Die Raus sind in Ochsenfurt und Umgebung ein weit verzweigter Familienclan. Dass sie am 24. Februar in der FAZ fast eine ganze Seite gewidmet bekommen haben, verdanken sie Norbert Rau. Der gilt als schwarzes Schaf der Familie. Seit Jahren verbreitet er wüste Geschichten über seine Verwandtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sie, die Raus, via Ochsenfurt ehemaligen Nazi-Größen zur Flucht nach Südamerika verholfen.

Norbert Rau, geboren 1955, lebt offenbar in ärmlichen Verhältnissen in einem Gartenhaus in Würzburg. Die FAZ schreibt von einem verwilderten Grundstück am Hang, andere meinen, Norbert Rau könnte in einem Boot am Main hausen. Der Ochsenfurter Polizei, die gegen Norbert Rau wegen seiner Familien-Beschimpfungen seit langem ermittelt, ist indessen kein Wohnort bekannt. Die Staatsanwaltschaft in Würzburg lässt nach Norbert Raus Aufenthaltsort fahnden.

Die Raus hatten in der Marktbreiter Straße in Ochsenfurt eine Fabrik, in der Büroartikel hergestellt wurden. Seit 1997 sind die Gebäude verweist. Die Konkurrenz in Asien hat billiger produziert. Da konnten die Raus nicht mehr mithalten. Die Geschichte, die Norbert Rau dem FAZ-Mitarbeiter Andreas Rosenfelder aufgetischt hat, liest sich als faszinierende Enthüllungsstory. Eine Mischung von Johannes Mario Simmel und Frederic Forsyth, der in seinem Buch die "Akte Odessa", die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen beschrieben hat. Das Umfeld der Ochsenfurter Firma Rau sei ein "Bermudadreieck für SS-Leute" gewesen, sagte Norbert Rau dem FAZ-Mitarbeiter.

Winnetous Erben

Über eine so genannte Rattenlinie seien aus Ochsenfurt NS-Eliten ins Ausland geschleust worden. Für verschlüsselte Botschaften habe die Gesamtausgabe von Karl May gedient. Daraus leitete sich auch die Überschrift des Artikels ab: "Winnetous Erben". Norbert Rau will auf dem Dachboden der Ochsenfurter Fabrik allerdings auch eine Enigma entdeckt haben, jene legendäre Codiermaschine, die die Wehrmacht für geheime Nachrichten verwendet hat.

Norbert Rau setzt auf die Nazi-Geschichten sogar noch eins drauf: Später soll der Gründer der kriminellen italienischen P 2-Loge, Licio Gelli, bei der Familie verkehrt haben.

Die abenteuerlichen Geschichten sind für die Familie nicht neu. 1993 gab es Hakenkreuz-Schmierereien am Fabrikgelände. Außerdem ist ein Grabstein der Familie einem ähnlichen Anschlag zum Opfer gefallen. Der damalige Geschäftsführer Wolfgang Rau hatte Anzeige erstattet. Die Polizei ermittelte.

Nicht glaubwürdig

1995 musste sich Norbert Rau für die NS-Schmierereien mehrfach vor dem Ochsenfurter Amtsrichter verantworten. Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Gegen das Urteil legte er Berufung ein, die er aber später zurückzog. In dem Prozess spielten auch die NS-Vorwürfe eine Rolle, die Norbert Rau gegen die Familie erhoben hatte. Ergebnis: Fehlanzeige. "Alles frei erfunden", erinnert sich ein Ochsenfurter.

Warum Norbert Rau offenbar einen unbändigen Hass auf die Familie hat, erklären sich Verwandte mit seiner permanenten Geldnot. Die Familie hat das schwarze Schaf enterbt. Norbert Rau soll auch Kontakte zur Drogenszene gehabt haben. "Da könnte sich sein Bewusstsein verändert haben", meint Anita Rau. An der Glaubwürdigkeit Norbert Raus haben nicht wenige Ochsenfurter Zweifel. Zumal er sich im FAZ-Artikel als Sohn des Fabrikbesitzers Rau ausgegeben hat. Doch Norberts Vater war Ernst Rau und der hatte nur im Versand der Fabrik gearbeitet. Was viele Ochsenfurter auch stutzig macht: In so einem kleinen Städtchen mit damals nicht einmal 10 000 Einwohnern hätte es sich herum sprechen müssen, wenn in der Marktbreiter Straße ehemalige NS-Größen ein- und ausgegangen wären. Sie sollen nach den Behauptungen von Norbert Rau schließlich auch den Sichelstiel-Flugplatz auf der Höhe zwischen Ochsenfurt und Frickenhausen benutzt haben.

Akten-Recherchen

Selbst im Familienclan der Raus kann man sich nicht erinnern, je irgendwelche Nazis oder SS-Leute erlebt zu haben. "Da wäre sicher einmal darüber gesprochen worden", meint dazu Manfred Rau. Auch in den einschlägigen Archiven und Entnazifizierungsakten ist nichts über NS-Kontakte der Familie Rau zu finden, wie bereits vor Jahren Recherchen der Ochsenfurter Redaktion ergaben. Norbert Rau nennt noch eine weitere Familie bei den NS-Verstrickungen, die wenige Grundstücke weiter in der Marktbreiter Straße eine Druckerei besessen hatte. Doch auch hier ist Norbert Rau offenbar ein Fehler unterlaufen. Der ehemalige Druckereibesitzer Weltz hat nicht, wie Norbert Rau behauptet, zwei Söhne, sondern zwei Töchter.

Die Söhne, so sagt Norbert Rau, hätten eine chinesische Dschunke in Spanien besessen, die zuvor im Besitz von Anita Eckberg gewesen sei. Drogen seien geschmuggelt worden. Ferner deutet Norbert Rau Beziehungen zur aus Hof stammenden Familie des paraguayischen Diktator Alfred Stroessner an.

Was die Raus nicht verstehen können ist, dass eine renommierte Zeitung wie die Frankfurter Allgemeine einen solchen Artikel abdruckt, ohne mit einem Familienmitglied Kontakt aufzunehmen. FAZ-Autor Rosenfelder verweist in einer Stellungnahme darauf, dass sein Artikel "die subjektive Perspektive des Künstlers Rau dokumentiert, und nicht etwa ein Tatsachenbericht über das Ochsenfurt der Nachkriegsjahre vorgelegt wird". Die "Aura der Kolportage, die Raus Geschichte umgibt" komme darin deutlich zum Ausdruck.

Die Rolle Karl Mays

"Tatsächlich stand im Mittelpunkt des Artikels die von Rau erinnerte und in seiner Skulptur verarbeitete Familiengeschichte, sowie die Rolle, die Karl May in dieser Theorie spielt", schreibt Feuilletonist Rosenfelder weiter. Einen "exemplarischen Blick auf familiäre und psychologische Dispositionen der Nachkriegszeit" habe er mit seinem Werk freigeben wollen.

Mit einfachen Worten: Der Autor war nicht an den Tatsachen interessiert, sondern am Gemütszustand seines Informanten. Den meisten Mitgliedern der Familie Rau jedenfalls ist daran bitter aufgestoßen, dass die wirre Geschichte den Eindruck erwecken könnte, als steckte doch Wahrheit darin.

 
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