Als „Wendehals“ haben sie ihn beschimpft und als „Judas“. Manchem stand die Zornesröte im Gesicht. Die geballte Wut der Belegschaft des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld (Lkr. Schweinfurt) hat im Oktober 2011 Ministerpräsident Horst Seehofer bei einem Besuch in Schweinfurt getroffen. Auch weil gerade die Konservativen, die sich immer für die Kernenergie starkgemacht hatten, das schnelle Aus für die Kernenergie in Deutschland vollzogen haben. Seitdem haben viele der 370 Beschäftigten Sorge um ihren Arbeitsplatz. Der einzige fränkische Atommeiler wird der Erste der jetzt noch in Betrieb befindlichen sein, der abgeschaltet werden muss. Am 31. Dezember 2015.
In der Anlage könne das immer noch niemand verstehen, sagt Kraftwerkssprecher Bernd Gulich. Denn technisch gesehen könnte der Betrieb noch viele Jahre weiterlaufen. „Die Entscheidung ist politisch gefallen.“ Gerade Reaktorfahrer oder Schichtleiter um die 30 überlegten sich, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Älteren könnten etwas beruhigter in die Zukunft schauen, die meisten werden noch gebraucht. Denn am 31. Dezember 2015 kann niemand einfach den Schlüssel am Werkstor umdrehen. Etwa fünf Jahre läuft die sogenannte Nachbetriebsphase, in der die verbrauchten Brennstäbe im Nasslager abkühlen müssen, bis sie in einen Castor verpackt werden. „Der Betrieb muss unter den gleichen Bedingungen und Sicherheitsaspekten laufen wie bei der Stromproduktion“, sagt Gulich.
Und danach könnte der Rückbau beginnen, der nochmals zehn Jahre lang dauern dürfte. Der Chef von Betreiber E.ON-Kernkraft, Ralf Güldner, hat in dieser Woche geäußert, dass sein Unternehmen den sofortigen Rückbau bevorzuge. Das wäre im Sinne der Belegschaft, sagt Gulich, weil dann Jobs gesichert seien und die Mitarbeiter ihre Kenntnisse der Anlage nutzen können. Auch Ministerpräsident Seehofer und führende Lokalpolitiker haben sich für diese Variante ausgesprochen. Rechtlich ist es nämlich auch möglich, den Atommeiler mit dem sogenannten „sicheren Einschluss“ für Jahrzehnte in einen Dornröschenschlaf zu schicken. Die Entscheidung behält sich der Mutterkonzern E.ON vor. Sie wird wohl erst in ein paar Jahren fallen.
In jedem Fall hat das Ende des Kraftwerksbetriebs weitreichende Folgen für die Region. Er betrifft Handwerker, Beherbergungsbetriebe und auch die 4000-Einwohner-Gemeinde Grafenrheinfeld. Doch im Rathaus strahlt die parteilose Bürgermeisterin Sabine Lutz Gelassenheit aus. Klar habe man von den Gewerbesteuermillionen von E.ON profitiert, aber sich nicht darauf verlassen. Schon vor Jahren hat sich die Gemeinde ein zweites Standbein besorgt – ein Gewerbegebiet mit inzwischen 600 Arbeitsplätzen.
Neidvoll haben Nachbargemeinden stets auf Grafenrheinfeld geschaut, das sich eine imponierende Infrastruktur geschaffen hat mit einer hoch gelobten Kulturhalle und einer vorbildlichen Gemeindebibliothek. Der Umstellungsprozess hat aber schon vor Fukushima eingesetzt, sagt Lutz. Denn E.ON hat Gewerbesteuerrückzahlungen geltend gemacht. Die Summe ist noch nicht bekannt. Die Rede ist von 18 Millionen Euro. Die Gemeinde hat ihr Füllhorn zugedreht, auch weil die Begehrlichkeiten groß waren. Automatisch hat der Gemeindekämmerer 45 Prozent der Baukosten bezahlt, wenn ein Verein ein Projekt verwirklichen wollte. Diese großzügige Regelung ist schon gekippt worden. Glück hat der Reitverein gehabt, der sich noch eine millionenschwere Reithalle hingestellt hat. „Wir werden bald eine ganz normale Gemeinde sein“, sagt Lutz. Dass die Bürger dann zum Beispiel Straßenbaubeiträge zahlen, daran wird sich manch einer noch gewöhnen müssen.
Zufrieden zurücklehnen wollen sich die lokalen Kernkraftgegner nicht. Bei ihnen schwingt immer wieder die Sorge mit, dass man aus der Energiewende doch wieder aussteigen könnte. Und zu Grafenrheinfeld hat es bei ihnen ohnehin immer nur eine Maximalforderung gegeben: „Abschalten. Sofort abschalten.“ Dem Aktionsbündnis kann das Ende der Kernkraft nicht schnell genug kommen. So ist es auch am vergangenen Montag auf dem Schweinfurter Wichtermann-Platz zu hören gewesen. Seit der Katastrophe von Fukushima haben die Kritiker dort regelmäßig Mahnwachen abgehalten. 26 an der Zahl. Mit zum Teil mehreren Hundert Teilnehmern. Beim Protestzug im April 2011 in Grafenrheinfeld waren es sogar Tausende.
Wenige Kilometer weiter südlich ist im Kernkraftwerk Ernüchterung eingekehrt. Unter anderem hat Seehofer im Oktober versprochen, Vertreter der Belegschaft in die Gespräche der bayerischen Energieagentur einzubinden. Seitdem hat man im Kraftwerk von Seehofer nichts mehr gehört.