Langsam drücke ich den Spachtel in die feuchte, lehmige Erde. Ein bisschen hebeln, dann kann ich einen Brocken Boden abheben. Ich erkenne etwas Beiges zwischen all dem Braun. „Jetzt kommen die Rippen“, sagt Marcel Günther – gemeinsam mit dem Archäologen lege ich ein menschliches Skelett frei. In Waigolshausen wollen sie eine neue Kirche bauen und sind bei den Bodenarbeiten auf alte Gräber gestoßen. Die müssen jetzt ordentlich freigelegt, dokumentiert und geborgen werden, bevor das Fundament für das neue Gotteshaus gegossen werden kann. Um einen Eindruck von den Arbeiten zu bekommen, darf ich mitarbeiten.
Bloß nichts kaputt machen, denke ich mir. Die Knochen sind nach langer Zeit unter der Erde so porös, dass ich sie mit dem Spatel leicht zerbrechen könnte. Als Marcel Günther und ich anfangen zu graben, gucken nur die Füße des Toten aus der Erde. Wir wissen noch nicht, wie groß der Mensch gewesen ist – also auch nicht, wo genau seine Arme aufhören oder der Kopf liegt. Die Taktik ist, sich nun an den Beinen hochzuarbeiten, das Becken freizulegen, die Wirbelsäule und schließlich den Kopf. Immer möglichst nah am Knochen entlang, aber ohne daran rumzuschaben.
Keine Berührungsängste
Ich will auf keinen Fall einen Fehler machen, bin so konzentriert, dass es mich im Angesicht der Vergänglichkeit nicht schaudert. Der Mensch, der da liegt, wirkt auf mich nicht mehr wie ein Mensch. Eher wie ein wissenschaftliches Anschauungsobjekt. Das Leben ist offensichtlich schon vor so langer Zeit aus diesen Knochen gewichen.
Vor wie langer Zeit, das können weder Marcel Günther noch der Ausgrabungsleiter Oliver Specht sagen. Specht hat mit seiner Schwebheimer Firma vom Bayerischen Landesamt für Denkmalschutz den Auftrag zur Flächengrabung erhalten. Auf dem Gelände standen schon mehrere Kirchen. Das Sechseck von 1961 und eine Echter-Kirche von 1609, die 1861 erweitert wurde. Die Echter-Kirche wurde zwiebelschalenartig um eine etwa zehn Meter lange Saalkirche aus der Frühgotik errichtet. Specht vermutet, dass es davor sogar noch ein Gotteshaus aus Holz gegeben haben könnte. Durch die verschiedenen Kirchen haben sich auch die Friedhöfe verändert, die Gräber liegen nicht in Reih und Glied, sondern versetzt, übereinander, durcheinander. Es gibt Erwachsenengräber, Kindergräber und Grablegungen von Säuglingen, die in umgedrehten Hohlziegeln bestattet worden sind. Dort, wo die Babys vergraben wurden, lief früher das Regenwasser von der Traufe der Kirche. Laut Specht hatten die Menschen die Vorstellung, ungetaufte Kinder würden durch das von der Traufe der Kirche abfließende Regenwasser getauft.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde Waigolshausen im Jahr 1060. Die Skelettfunde können also bis ins elfte Jahrhundert zurückreichen. Die jüngsten Funde dürften aus dem 19. Jahrhundert stammen. Eine genaue Altersbestimmung der Knochen kann erst die sogenannte Radiokarbonmethode bringen.
Marcel Günther hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wo er weitergraben muss. Ich dachte, die Anatomie des Menschen zu kennen. Doch in welcher Tiefe ich auf das Becken stoßen werde, wie genau sich seine schalenartige Wölbung fortsetzen wird – schwierig. Und immer weiß ich: Stößt du direkt auf den Knochen, dann zerbrichst du ihn.
Unsere Werkzeuge sind eine große Kelle, wie man sie benutzt, um Putz aus dem Eimer auf den Spachtel zu klatschen. Mit dem grobschlächtigen Ding werden die Erdbrocken in den Eimer geschaufelt, die wir mit dem mittelgroßen Spachtel gelöst haben. Und dann gibt es noch einen ganz schmalen Spachtel, der kommt in den kleinteiligen Bereichen zum Einsatz, zum Beispiel bei den Rippen oder an den Füßen. Marcel Günther arbeitet sich seelenruhig am Skelett entlang. Ich schiele zu ihm rüber, abgucken ist heute ausdrücklich erlaubt. Im Zweifelsfall schaufele ich mit der Kelle das Gröbste zur Seite, quasi die Lehrlingsarbeit.
Graben in gefrorener Erde
Der 34-jährige Sachse ist wegen des Jobs nach Unterfranken gekommen. Schon als Kind hat er „immer alle Fernsehsendungen zum Thema Archäologie geschaut“. Später hat er dann Vor- und Frühgeschichte sowie Anthropologie studiert. Er wusste schon früh, was er wollte – und das sollte man auch, denn an diesem Nachmittag sind es in Waigolshausen gerade mal fünf Grad und windig. Die Männer verbringen den ganzen Tag draußen. „Im Moment ist das Wetter schon hart“, sagt Günther, „besonders, wenn's morgens knapp über null hat und der Boden gefroren ist.“
Mir ist schon nach einer Stunde verdammt kalt. Viel zu dünn angezogen – typisch Schreibtischtäter. Die Kälte frisst sich unter der Jacke den Rücken hoch, während ich auf dem Boden kauere. Netterweise haben mir die Archäologen ein Thermo-Vlies hingelegt, auf das ich mich beim Graben knien kann. Eigentlich decken sie damit Gräber ab, Marcel Günther braucht derlei Hilfsmittel nicht. Er trägt nicht mal eine richtige Jacke.
Während wir so werkeln, sprechen wir nicht viel. Es ist auch eine meditative Arbeit – für den Profi zumindest. „Beim Freilegen hat man auch viel Zeit, sich Gedanken zu machen“, sagt Günther. Ich bin am Ende bloß froh, keinen Schaden angerichtet zu haben.
Bis zum Ende der Ausgrabungen bietet Ausgrabungsleiter Oliver Specht jeden Mittwoch um 16.30 Uhr eine öffentliche Führung über das Kirchengelände im Waigolshäuser Ortskern an. Freiwillige, die nach Voranmeldung den Spaten zur Hand nehmen wollen, sind ebenfalls willkommen. Oliver Specht ist erreichbar unter Tel. (09723) 93 82 64 oder Tel. (0178) 6 31 82 55.