zurück
Ein Kniefall wird Symbol
Von unserer Mitarbeiterin Kirsten Mittelsteiner
 |  aktualisiert: 11.11.2021 13:46 Uhr

Damit hatte niemand gerechnet. Nachdem er am Mahnmal der Helden des Gettos in der polnischen Hauptstadt Warschau am 7. Dezember 1970 einen Kranz niedergelegt hatte, kniet Bundeskanzler Willy Brandt plötzlich nieder und verharrt schweigend.

Seine Begleiter aus der deutschen Delegation sind ebenso perplex wie die zahlreichen Journalisten, die vor allem deshalb mitgereist waren, um von einer Vertragsunterzeichnung zu berichten. Dieses Bündnis sollte die Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland vorantreiben. In die Stille dieser gleichermaßen aufregenden wie anrührenden Szene klicken nur Fotoapparate, surren einige Kameras, die das Geschehen für die Geschichte festhalten.

So gerät die überraschende Geste der Demut zu einem symbolischen Meilenstein auf dem Weg zur Entspannung zwischen den politischen Machtblöcken. Brandt schreibt später in seinen „Erinnerungen“: „Das war nicht geplant – am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Genau diese Entspannung im Kalten Krieg ist ein Kernpunkt der neuen deutschen Ostpolitik. Der „Wandel durch Annäherung“, wie es Brandts Chefdenker Egon Bahr trefflich bezeichnet, dominiert außenpolitisch die erste Hälfte der 70er Jahre. Verträge mit Polen und der Sowjetunion schreiben den gegenseitigen Gewaltverzicht fest.

Ebenso wichtig: das Herantasten an die DDR, in der 1971 Erich Honecker Walter Ulbricht als SED-Generalsekretär ablöst. Es kommt zu Treffen von BRD-Kanzler und DDR-Ministerpräsident in Erfurt und Kassel. Dass in Erfurt die Menschenmassen immer wieder „Willy, Willy“ jubeln und damit Brandt meinen, mag dem anderen Willi (Stoph) nicht behagen. Internationale Würdigung erfährt Willy Brandt 1971 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises. An der allgemeinen Wertschätzung ändert auch die Kritik der bundesdeutschen Opposition nichts. Die Union fürchtet durch die Ost-Annäherung eine Aufweichung der Westbindung.

Die meisten Deutschen aber freuen sich über die Ehrung des Bundeskanzlers „für seine Bemühungen um das Verständnis der Völker und das Engagement für die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen“.

Während die außenpolitischen Erfolge der sozialliberalen Regierung im Rückblick unbestritten sind, ist die innenpolitische Bilanz eher dürftig. Reformen kommen nicht voran, die wirtschaftliche Lage ist alles andere als rosig. Das hat auch mit der weltweiten Ölkrise zu tun. Die arabischen Länder drosseln 1973 ihre Erdöllieferungen und erhöhen die Preise. Autofreie Sonntage sind nur ein schwaches Gegenmittel.

Diese Einschränkung beschäftigt die Menschen weniger als ihre privaten Sorgen. Sie bangen um Arbeitsplatz und Wohlstand, Firmen gehen pleite, es kommt zu Streiks. Kein Wunder, dass die schwarze Opposition Morgenluft wittert. Dennoch: Bei der Bundestagswahl 1972 fährt Rot-Gelb einen fulminanten Sieg ein. Brandt wird wieder Kanzler.

Allerdings steht der Friedensnobelpreisträger nicht mehr die gesamte Legislaturperiode durch. Am 6. Mai 1974 teilt er mit ein paar dürren handschriftlichen Zeilen Bundespräsident Gustav Heinemann seinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers mit – Folge der sogenannten Guillaume-Affäre. Günter Guillaume ist einer der engsten Mitarbeiter Brandts, bevor man ihn am 24. Mai 1974 als DDR-Spion enttarnt.

Bundeskanzler wird Helmut Schmidt. Auf ihn wird das zweite große Thema der 70er Jahre zukommen, initiiert von der 1970 gegründeten Rote Armee Fraktion (RAF): Jahre des Terrors bis zum mörderischen deutschen Herbst 1977.

(Fortsetzung folgt)


10 Schlagzeilen

1. US-Präsident Nixon in China

2. Größte Bombenlast in Vietnam

3. Walter Scheel Bundespräsident

4. Militärputsch in Chile

5. KPdSU-Chef Breschnew in USA

6. Handelskrieg USA/EWG

7. Juan Perón wieder in Argentinien

8. Nigerianischer Bürgerkrieg endet 9. 25 Jahre BRD und DDR

10. Große Hungersnöte weltweit

Die DDR grüßt die Welt: Die Weltjugendspiele fanden 1978 in Ost-Berlin statt (Szene am Alexanderplatz).
| Die DDR grüßt die Welt: Die Weltjugendspiele fanden 1978 in Ost-Berlin statt (Szene am Alexanderplatz).
Irritierende Geste: Richard Nixon am 9. August 1974, nachdem er vom Amt als US-Präsident zurückgetreten ist.
| Irritierende Geste: Richard Nixon am 9. August 1974, nachdem er vom Amt als US-Präsident zurückgetreten ist.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Arabische Länder
DDR
Egon Bahr
Erich Honecker
Gettos
Gustav Heinemann
Günter Guillaume
Handelskriege
Helden
Helmut Schmidt
Juan Domingo Perón Sosa
RAF
Rote Armee
Walter Scheel
Walter Ulbricht
Willy Brandt
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen