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Annäherung an den eigenen Tod
Wolfgang Herrndorf: In „Arbeit und Struktur“ hat der Schriftsteller sein Sterben dokumentiert. Auch in „Bilder deiner großen Liebe“ ist der Tod ein Thema.
Herbert Scheuring
Herbert Scheuring
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:32 Uhr

Zwei Romane fertig, zwei weitere Romanruinen bleiben liegen“, notierte Wolfgang Herrndorf am 6. Dezember 2011 in seinem Blog. Knapp zwei Jahre waren zu diesem Zeitpunkt vergangen, seit Ärzte bei ihm einen Hirntumor diagnostiziert hatten. Der Schriftsteller stürzte sich nach der wenig Hoffnung lassenden Diagnose, die er im Alter von 44 Jahren erhielt, in die Arbeit, um begonnene Romanprojekte zum Abschluss zu bringen. Noch im Herbst 2010 erschien der Jugendroman „Tschick“, der schnell zum Bestseller wurde. Ein Jahr später, im Herbst 2011, veröffentlichte Herrndorf den Agentenroman „Sand“, der im Jahr darauf den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Eine der Romanruinen, die liegenblieb, weil Herrndorfs Kräfte nachließen, handelt von der 14-jährigen Isa, die schon in „Tschick“ als Nebenfigur auftaucht. In der letzten Woche seines Lebens willigte Herrndorf in die Veröffentlichung des unvollendeten Romans ein. Den Titel des jetzt erschienenen Buches legte er noch selbst fest: „Bilder deiner großen Liebe“.

Das Buch ist eine Art Fortsetzung des „Tschick“-Romans aus der Perspektive von Isa, die – wie die jugendlichen Hauptfiguren in „Tschick“ – durch Deutschland vagabundiert. Und es ist eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Es enthält Sätze, die Herrndorfs eigene Gedanken und Empfindungen während des Kampfes gegen die todbringende Krankheit aufzugreifen scheinen: „Ich stelle mir vor, jemand sieht mich von oben, aber niemand sieht mich. Dabei liege ich so malerisch. Das glaube ich, und ich fühle mich so wohl und so tot und wie ein aufgestauter Fluss, über den in der Nacht immer wieder einmal der Wind geht.“ Oder: „Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker.“

„Bilder deiner großen Liebe“ ist das zweite posthum erschienene Buch Herrndorfs. Das erste, seine eigentliche Auseinandersetzung mit Krankheit, Sterben und Tod, heißt „Arbeit und Struktur“ und basiert auf dem digitalen Tagebuch, das Herrndorf im März 2010 zu schreiben begann, nachdem er erfahren hatte, dass er an einem Hirntumor leidet. Ab September 2010 war es für alle zugänglich im Netz zu lesen – fast drei Jahre lang, bis zu Herrndorfs Tod im August 2013. Die Einträge sind manchmal mehrere Seiten lang, oft sind es nur wenige Zeilen. Es sind Notizen und Beobachtungen, die typisch für ein Tagebuch sind, aber immer vor dem Hintergrund des drohenden Todes geschrieben, der sich mal langsam, mal mit Riesenschritten zu nähern scheint. Gedanken über das, was war, über das, was ist, und über das, was bleiben wird. Und es ist, im Rückblick betrachtet, die Chronologie von Herrndorfs Sterben.

„Du wirst sterben“, notiert er im März 2010. „Ja, aber noch nicht“, geht der innere Dialog weiter. „Ja, aber dann. - Interessiert mich nicht. - Aber, aber. - Der Komödienstadel führt sein tägliches Stück zum Weckerklingeln auf, fünf Sekunden später beendet der Intendant die Vorstellung.“ Herrndorf macht sich Hoffnungen – auf eine Verlängerung der verbleibenden Lebenszeit, kurzfristig sogar auf eine komplette Remission des Tumors. „Mit der Diagnose leben geht, Leben ohne Hoffnung geht nicht“, schreibt er am 6. 1. 2011. Aber letztlich macht er sich keine großen Illusionen. Er weiß, dass er sterben wird. Die Frage ist nur, wie lange sich das Ende hinauszögern lässt.

In einer Rückblende berichtet Herrndorf von den ersten Symptomen der Krankheit, die sein ganzes Leben auseinanderlegt: starke Kopfschmerzen, motorische Störungen. Im Krankenhaus wird eine Computertomografie gemacht. Der Arzt spricht von einer „Raumforderung“ im Gehirn. Herrndorf wird operiert, macht eine Chemotherapie. Er beschäftigt sich mit Überlebensstatistiken: „Wikipedia gibt 17,1 Monate ab Diagnose.“ Im schlimmsten Fall kann es auch schneller gehen. „Ich fange an, mich vorsichtshalber auf drei Monate runterzurechnen“, schreibt er und fragt sich: „Könnte man leben, wenn man nur noch drei Monate hat? Nur noch einen Monat?“ Herrndorf will leben, und er will die ihm verbleibende Zeit nutzen.

Arbeit und Struktur. Und Selbstbestimmung. Für Herrndorf werden diese Schlüsselbegriffe entscheidend. Er will weiter schreiben, um Angefangenes zu Ende zu bringen – vor allem aber, um seinem Leben in diesem Wartezimmer des Todes, aus dem es kein Entrinnen gibt, eine Struktur zu geben, ein Fundament, das trägt. Denn einen Glauben, der ihn tragen könnte, hat Herrndorf nicht. „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)“, schreibt er zu Beginn seiner Krankheit. Mit Spekulationen über ein Leben nach dem Tod kann er nichts anfangen. Zu einer TV-Sendung über Nahtod-Erfahrungen meint er: „Ich weiß selbst, dass ich mich mit positivem Denken, mit Sport und Lächeln und Arbeiten über das Bodenlose hinwegtäusche, aber wenn ich auf den letzten Metern noch derart infantil werden sollte, zu vergessen, dass es sich um Selbsttäuschung handelt, erschieße man mich bitte.“ Arbeit und Struktur ist das, was Herrndorf braucht. Er zählt Titel von Büchern auf, die andere in Grenzsituationen des Lebens geschrieben haben. „Einladung in den Himmel“ zum Beispiel, oder Christoph Schlingensiefs „So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein“. Ans Ende der Liste dieser oft sehr blumigen Titel setzt er sein nüchternes „Arbeit und Struktur“. Ein sperriger Titel, der aber genau benennt, was Herrndorf Halt gibt.

Die Frage der Selbstbestimmung. Herrndorf will, wenn ihm schon sein Leben entgleitet, zumindest einen Rest von Kontrolle behalten über das „Gemüse, das einmal meinen Namen trug“, wie er schreibt. Er sucht eine „Exit-Strategie“ und ist sich, nach Abwägung verschiedener Möglichkeiten, bald sicher, dass es nur eine Waffe sein könne. „Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene“, schreibt er am 30. 4. 2010. „Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin.“ Gut vier Monate später notiert er: „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen.“

Konfrontiert mit dem eigenen Ende, denkt Herrndorf über den Tod anderer nach. Über den Suizid von Gunther Sachs, oder den plötzlichen Tod von Amy Winehouse. Er wundert sich über Robert Gernhardts Arbeitseinstellung zuletzt, vor allem darüber, dass dieser vor seinem Tod in der Erwartung seines literarischen Nachruhms offenbar Trost fand. Ein Gedanke, der Herrndorf fernliegt: „Ich arbeite nur, um zu arbeiten.“ Er geht über den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, besucht die Gräber von Bertolt Brecht und anderen, sinniert über den eigenen Grabspruch: „Was ich vermutlich gut fände: Starb in Erfüllung seiner Pflicht.“ Arbeit und Struktur.

Schreiben, Lesen, Treffen mit Freunden und Freundinnen, Sport, vor allem Fußballspielen oder Baden am frühen Morgen im Berliner Plötzensee – all dies lässt Herrndorf spüren, dass er noch lebt. Vielleicht sogar mehr als jemals zuvor. Auf das erste Jahr seit der Diagnose zurückblickend, wundert er sich, dass er sich kaum unglücklicher fühlt als davor. „Insgesamt vielleicht sogar ein bisschen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind.“ Dennoch ist er, vor allem im weiteren Verlauf der Krankheit, extremen Stimmungsschwankungen unterworfen. „Ein Irrsinn jeder Tag. Gleichgültigkeit, Manie, Angst, Freude, Arbeit, Begeisterung wechseln im Minutentakt“, notiert er einmal. Die zeitweilige Gewissheit, die Sache in den Griff zu bekommen, erkennt er als Selbsttäuschung, als Selbstüberredung zum Leben.

Der Tod stellt alle vermeintlichen Gewissheiten infrage. Herrndorf spricht von der eigenen Bedeutungslosigkeit im Angesicht der Unendlichkeit, denkt über die in seinen Augen unbegreifliche Nichtigkeit der menschlichen Existenz nach: „In einem Moment belebte Materie, im nächsten dasselbe, nur ohne Adjektiv.“ Von keinem Glauben getröstet und von der Hoffnung oft verlassen, findet Herrndorf starke Bilder für die menschliche Ohnmacht und Sätze von ungeheurer Wucht, die er der Konfrontation mit dem Unabänderlichen und der Ausweglosigkeit des Todes entgegensetzt: „Der Versuch, sich selbst zu verwalten, sich fortzuschreiben, der Kampf gegen die Zeit, der Kampf gegen den Tod, der sinnlose Kampf gegen die Sinnlosigkeit eines idiotischen, bewusstlosen Kosmos, und mit einem Faustkeil in der erhobenen Hand steht man da auf der Spitze des Berges, um dem herabstürzenden Asteroiden noch mal richtig die Meinung zu sagen.“ Sätze wie diese.

Die Frage nach dem Warum. Menschen haben gelernt, in den Kategorien von Ursache und Wirkung zu denken. Wenn sie – zumal in jungen Jahren – ohne Hoffnung auf Heilung erkranken, dem eigenen Tod entgegensehen und das Gefühl, vom Leben ungerecht behandelt zu werden, übermächtig wird, taucht sie oft auf, die Frage: Warum ich? Herrndorf stellt sich diese Frage nicht, da er nicht nach einer göttlichen Gerechtigkeit forscht, sondern das Prinzip des Zufalls am Werke sieht: „Warum ich?“, schreibt er, um die Frage gleich selbst zu beantworten: „Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.“ Das ist sehr lakonisch ausgedrückt. Aber nahe am Leben.

Die Frage der Lebensbilanz. Herrndorf sieht in seinem über weite Strecken sehr humorvollen Tagebuch auch Vorteile im Sterben: „Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenversicherung, nie wieder Zahnarzt. Ich werde meine Eltern nicht zu Grabe tragen.“ Das Nachdenken über Versäumtes, wie darüber, kein Musikinstrument gelernt, auf keiner Bergspitze gestanden zu haben, oder nie in Amerika gewesen zu sein. Er sei fast immer allein gewesen, bilanziert Herrndorf, und trotz seiner Krankheit stellt er fest: „Die letzten drei Jahre waren die besten.“

Die Frage der Selbstbestimmung überschneidet sich am Ende des Lebens, wenn die Krankheit das eigene Dasein radikal verändert, mit der Frage der Wahrnehmung durch andere: Wer war ich? Wer bin ich jetzt? Will ich der sein? Und für wie lange? Herrndorf kommt es so vor, als ob andere ihn nur noch als Schatten wahrnehmen, als etwas, mit dem nicht mehr zu rechnen ist.

Es ist ein langsames Weggleiten. Was einst ganz selbstverständlich war, funktioniert plötzlich nicht mehr. „Seit vielen Tagen keine Sprache mehr, Arbeit am Text reiner Unsinn, Worte, Fehler, Suche, Hilfe, Trauer, Sprache mündlich gar nicht“, notiert er am 31. 5. 2013. Herrndorf registriert, dass er sich als Folge seines Hirntumors nicht mehr sinnvoll unterhalten kann; dass seine Gesprächspartner versuchen müssen, seine Sätze zu erraten; dass ihm beim Schreiben die passenden Wörter fehlen. Eine Situation, die für einen wie ihn, der „Herr im eigenen Haus“ sein will, unerträglich wird. „Ich bin nicht der Mann, der ich einmal war“, schreibt Herrndorf. „Meine Freunde reden mit einem Zombie, es kränkt mich, ich bin traurig, ich will weg. Ich will niemanden mehr sehen.“

In den letzten Wochen, im August 2013, werden die Einträge immer kürzer. Er könne nichts schreiben und nichts lesen, notiert Herrndorf am 4. August 2013. Oft stehen nur wenige Sätze da, manchmal nur ein einziges Wort. Am 26. August 2013 nimmt sich Wolfgang Herrndorf in Berlin das Leben. Hinterlassen hat er neben Erzählungen, Romanen und dem Fragment „Bilder deiner großen Liebe“ vor allem das Buch „Arbeit und Struktur“, in dem er sich schonungslos mit dem eigenen Leben und Sterben auseinandersetzt und die Frage der Selbstbestimmung am Ende des Lebens auf seine Weise beantwortet.

Wolfgang Herrndorf: „Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman“, Rowohlt Berlin Verlag, 2014, 142 Seiten, 16,95 Euro. „Arbeit und Struktur“, Rowohlt Berlin Verlag, 447 Seiten, 2013, 19.95 Euro.

Elias Canettis „Buch gegen den Tod“

Der Tod macht Angst, und er macht wütend. Elias Canetti, der 1994 im Alter von 89 Jahren starb, hat sich sein Leben lang mit dem Tod auseinandergesetzt. „Er scheint mir so nichtsnutzig und böse wie je, das Grundübel alles Bestehenden, das Ungelöste und Unverständliche“, schrieb er 1951. Sein Projekt, ein Buch mit dem Titel „Der Todfeind“ zu schreiben, kam über eine Sammlung von Gedanken nie hinaus. Nun wurde eine Auswahl seiner Aufzeichnungen zum Thema, die er 1942 begonnen und über mehr als 50 Jahre hinweg bis zu seinem Tod fortgesetzt hatte, unter dem Titel „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass herausgegeben. In dem Buch setzt sich Canetti unter anderem mit der Religion, mit dem Krieg sowie mit Zitaten von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Philosophen über den Tod auseinander. Aber ein Buch gegen den Tod: Was soll das sein? Es ist ein im Kern lächerliches, von Beginn an zum Scheitern verurteiltes Projekt – ebenso sinnlos wie ein Pamphlet gegen die Abfolge von Ebbe und Flut. Und es enthält zahlreiche Sätze, die eigentlich nur Kopfschütteln auslösen können. Zum Beispiel: „Einmal will ich Sätze finden, dass Gott sich vor mir schämt. Dann wird niemand mehr sterben.“ Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“, Hanser Verlag, 352 Seiten, 24,90 Euro.

 
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