Die Gefahr misst einige Kubikmeter, und ist tonnenschwer. Bang richtet der Bauer – nennen wir ihn Abdi – den Blick von seiner Lehmhütte auf den Hang. „Ich kann nicht mehr schlafen.“ Albträume quälen ihn. „Vorher hatten wir Angst vor den Tieren.“ Vor Hyänen, Affen, Schlangen. Nun droht ein mächtiger Felsbrocken abzubrechen und das Zuhause der Familie zu begraben. Ein erster Koloss hat sich bereits gelöst, kam vor der Hütte zum Liegen. Das war im Herbst, während der letzten Regenzeit.
Wolkebela, der erloschene Vulkankrater im Osten Äthiopiens– ein Ort der Extreme. Eine steinige Halbwüste nicht weit von der somalischen Grenze. Heiß ist es im Talkessel und jeder Regen ein Segen. Eigentlich.
Vor sechs Jahren, als hier die von Lesern unserer Zeitung finanzierte und von der Organisation „Menschen für Menschen“ gebaute Main-Post-Schule eröffnet wurde, hatten die Bewohner der Gegend zu Allah gefleht. Weil es stellenweise seit drei Jahren nicht mehr geregnet hatte. Auch jetzt sind die Gräben ausgetrocknet, immer wieder wirbeln Sandhosen durch die Luft. So mag man kaum glauben, dass im Oktober mehr als genug vom Himmel kam. So viel, dass die „Straße“ ins Tal von Wolkebela – eine Buckelpiste für Geländefahrzeuge, 500 Meter Höhenunterschied – ausgeschwemmt wurde und der massive Steinschlag Teile einfach mit sich riss. Wochenlang gelangte kein Auto mehr ins Dorf.
Ahmed Adem Hussein, Bauer und Vater von elf Kindern
Und nun war ein „Ferenchi“ angekündigt, ein Weißer. Ein Main-Post-Reporter, der die Schule besuchen und den Spendern in Deutschland berichten will. Den Geldgebern sind sie dankbar in Wolkebela – benannt nach dem alten Mann, der die Menschen hier angesiedelt haben soll. Sie sind eine solidarische Gemeinschaft: Jeden Sonntag (bei Muslimen kein Feiertag) werden gemeinnützige Arbeiten verrichtet. Welche, das entscheidet das Dorfkomitee. So packten die Einwohner von Wolkebela rechtzeitig vor Ankunft des Gastes an, um die Straße ins Dorf auch für Autos (und nicht nur für Esel und Ochsen) wieder passierbar zu machen.
So wie sie damals – angeleitet von „Menschen für Menschen“ – angepackt hatten, um diese Lebensader zu bauen. Knapp 15 Kilometer dürften es von Babile aus sein, dem kleinen, für seine Erdnüsse bekannten Wirtschaftszentrum in der Region, wo jüngst Entwicklungsminister Dirk Niebel Projekte von Böhms Organisation besucht hat. Doch Entfernungen spielen keine Rolle in Äthiopien. Maßeinheit ist die Zeit. Von Babile nach Wolkebela? „Eine Dreiviertelstunde“, meint der äthiopische Begleiter. In Deutschland wären es zehn Minuten, aber dort trotten keine Kamelherden und Esel auf den Straßen, weiden keine Ochsen und springen nicht Ziegen und Affen vor die Stoßstange.
Die Rückkehr nach Wolkebela, sechs Jahre nach Eröffnung der Main-Post-Schule – ein kribbelnder, ein emotionaler Moment. Wie damals schlummert das Dorf friedlich im Tal, stehen geblieben scheint die Zeit. Indes deutet ein Indiz darauf hin, dass es den Menschen hier besser geht als in anderen Flecken des Landes: Viele Lehmhütten haben ein Dach aus Wellblech. Ein Stück Luxus in Äthiopien, das laut Weltbank noch immer einer der ärmsten Staaten ist – trotz Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren.
Ankunft in der Schule am Dorfrand: Eine Hundertschaft an Schülern wartet ungeduldig am Tor des umzäunten Geländes. Kaum dass sie den Geländewagen erkennen, brandet Jubel auf, winken sie eifrig – wie zur Eröffnung – mit weißen Fähnchen. Ein wenig abgeblättert ist die Schrift auf dem großen Eingangsschild, aber noch gut lesbar: „Main-Post Lower Primary School“. Die Grundschule hat man mittlerweile zur Volksschule bis zur 8. Klasse aufgestockt. Zwei Blöcke mit insgesamt acht Klassenzimmern sind 2004 gebaut worden. Fünf von ihnen sind derzeit belegt. Eine Schule im Aufbau. Die Gebäude – auch ein kleiner Verwaltungsbau, Lehrerunterkunft, Toiletten – sind gut in Schuss. Bis zu 70 Schüler drängen sich in einer Klasse.
„Zeeroo, lama, tokko“, schallt es durch die 1. Klasse, in der Regionalsprache Oromo, „null, fünf, zehn“: Ein Junge mit Zeigestab in der Hand ruft an der Tafel Zahlwörter vor, gut 60 Mitschüler wiederholen im ohrenbetäubenden Chor. Frontalunterricht wie im Deutschland der 50er Jahre. Aber pädagogische Feinjustierung wäre fehl am Platz in einem Land, in dem noch 40 Prozent der Kinder nicht zur Schule gehen. Immerhin: Die Einschulungsrate steigt. Ein Verdienst auch von „Menschen für Menschen“: Die Organisation hat die Bildungsanstrengungen forciert und bereits über 250 Schulen errichtet. Sie sind bautechnisch aufwendiger, aus festem Mauerwerk, und damit teurer als die staatlichen – dafür dauerhafter.
Die Main-Post-Schule war zur Eröffnung im Februar 2005 die hundertste im Ausbauprogramm. Im Titel trägt sie neben dem Namen der Zeitung auch den der kleinen Sado. Eine Widmung von Karlheinz Böhm zu Ehren eines Mädchens, das noch bei der Eröffnung der Schule auf einem Auge fast blind war. „Menschen für Menschen“ veranlasste die Operation, nun kann Sado sehen – und lernen. Jetzt ist sie es, die sich schüchtern nach der Gesundheit des Prominenten erkundigt: „Wie geht es Mister Karl? Sagen Sie ihm alles Gute!“ Aus Dankbarkeit haben die Menschen von Wolkebela einen Berg nach dem 82-jährigen Schauspieler und Entwicklungshelfer benannt: „Gaara Dr. Kaarl“, der Dr.Karl-Berg.
Sados Papa hat sich zur Begrüßung unter die Schüler gemischt. Ahmed Adem Hussein, Bauer und Vater von elf Kindern, zückt aus einer verschlissenen Plastiktüte ein Foto und zeigt es stolz, wie einen Juwel. Darauf: seine Tochter, Karlheinz Böhm, dessen Vize Berhanu bei der Schuleinweihung. Ein Bild, das dem Main-Post-Reporter bekannt vorkommt... Er hatte es dereinst geknipst und von Würzburg aus nach Äthiopien geschickt. Beim Besuch diesmal ist die komplette Main-Post-Ausgabe vom Februar 2005 im Gepäck. Als die Zeitung ausgebreitet wird, stürzen die 63 Schüler der 5. Klasse fast übereinander. Einige erkennen sich wieder, springen vor freudiger Aufregung im Klassenzimmer herum.
Sie, die Fünftklässler, waren Pioniere. Die Ersten, die in Wolkebela eingeschult wurden. Mittlerweile lernen sie neben Oromo und der früheren Amtssprache Amharisch auch Englisch. Acht Fächer stehen auf dem Stundenplan. In Ethik diskutieren sie gerade über Korruption und ihre Folgen. Sadiam Ahmed ist Klassenbester, liebt Mathe, lernt viel zu Hause. Der Bruder von Sado hat einen Traum – er möchte Arzt werden, um anderen Leuten zu helfen. Als die letzte Stunde an diesem Vormittag vorbei ist, steht der Zwölfjährige als Vorsprecher auf dem Schulplatz: In Reih und Glied aufgestellt nimmt er seinen Mitschülern die Oromia-Hymne ab. Ein flammendes Bekenntnis zur Region, ihrer Entwicklung, Unabhängigkeit – und eine Erinnerung an die Freiheitskämpfe. Die Oromia-Flagge wird mit jedem Schulschluss vom Mast geholt und am folgenden Morgen wieder aufgezogen. Eine Demonstration gewachsenen Selbstbewusstseins.
Taajuu Mankull (24), Leiter der Schule in Wolkebela
Sieben seiner elf Kinder hat Papa Ahmed Hussein bereits zur Schule geschickt. Sie unterstützen sich beim Lernen. Der Vater ist überzeugt: „Bildung ist wichtig. So können unsere Kinder dem Land helfen – und uns selbst, wenn wir alt sind.“ Ahmed Hussein hat Lesen und Schreiben im Abendunterricht für Erwachsene nachgelernt, ebenfalls in der Main-Post-Schule. „Menschen für Menschen“ hat in einem der Klassenzimmer eine Solarlampe installiert, sodass auch in der Dunkelheit gepaukt werden kann. 58 Männer und Frauen, auch aus benachbarten Dörfern, kommen derzeit in die Abendkurse.
Sie tun das freiwillig, anders als die jungen Lehrer. Sechs sind es im Moment. Sie werden von der Regionalverwaltung in Harar für einige Jahre in den entlegenen Talkessel geschickt, um in der Dorfschule Erfahrung zu sammeln. Ihre Unterkünfte im Lehrerhaus sind bescheiden: Vier Quadratmeter – das reicht für eine Schlafmatte und einen Schreibtisch. Auch Schulleiter Taajuu Mankull ist mit 24 Jahren noch jung. Die Entwicklung in Wolkebela sieht er nach zwei Jahren als Direktor positiv: „Die Lehrer sprechen viel mit den Eltern und motivieren sie, ihre Kinder in die Schule zu schicken.“ Mankull zeigt auf das Plakat mit den Einschulungszahlen.
Da streckt ein junger Mann seinen Kopf zur Tür herein. Amin Ahmed Adem, noch ein Sohn von Ahmed Hussein. Er hat in Babile die Volks- und Oberschule bis zur 10.Klasse besucht, dort im Schülerwohnheim von „Menschen für Menschen“ gelebt. Er könnte einen guten Beruf, vielleicht ein Handwerk erlernen. Doch ist er nach Wolkebela zurückgekehrt. Seine Familie braucht ihn für die Landwirtschaft. Sie halten Ochsen und Ziegen, bauen Hirse und Mais an, Süßkartoffeln, Zuckerrohr, Erdnüsse, Gemüse, Papayas und ein wenig Baumwolle. Ein Trampelpfad führt von der Schule eine halbe Stunde bis zur Hütte und zu den Feldern der Familie. Eine Tochter Ahmeds schleppt in gelben und blauen Kanistern, auf dem Kopf und mit den Händen tragend, Trinkwasser heran. Nachdem „Menschen für Menschen“ nahe der Schule einen Pumpbrunnen gebaut hat, müssen die Mädchen nicht mehr weit laufen und sind als Hilfskräfte daheim entbehrlich. Erst somit sind sie „frei“, um zur Schule zu gehen.
Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, den die Organisation in Äthiopien verfolgt. Wobei der Schulbildung besondere Bedeutung zukommt. Sie ist, das sagt nicht nur Karlheinz Böhm, „der Schlüssel zur Entwicklung“. Zur Entwicklung auch im trockenen Talkessel von Wolkebela, wo das Vertrauen zu dem bekannten Helfer und seinen Mitarbeitern ungeheuer groß ist. Zaghaft fragt Bauer Abdi an, ob sie den Todesfelsen, diesen persönlichen Angstklotz über seiner Hütte, entschärfen könnten. Damit er wieder ruhig schlafen könne. Die Sache wird notiert. Man löst ja sonst so viele Probleme. Nur bei manchen Naturgewalten in einer rauen Region – da ist bisweilen selbst eine Hilfsorganisation ein wenig hilflos.
Die Schule und die Spendenwette
Mit großem Einsatz und Kreativität haben sich 2004 unsere Leser und die Menschen der Region in eine Spendenaktion eingebracht, an deren Anfang eine Wette stand – wie 1981 vor Karlheinz Böhms Beginn in Äthiopien. Analog zur damaligen ZDF-Sendung hatte der Schauspieler und Entwicklungshelfer mit den Mainfranken und Rhönern gewettet: Nicht jeder Dritte werde einen Euro für die Aufbauarbeit in dem Land am Horn von Afrika spenden. Initiiert und organisiert von der Mediengruppe Main-Post, unterstützt von Africa Festival und Sparkasse Mainfranken, stand nach sechs Wochen das stolze Resultat von knapp 300 000 Euro – die Wette mit Böhm war gewonnen. Mit dem Geld wurden der Bau und die Ausstattung der Schule in Wolkebela finanziert, ebenso eine Gesundheitsstation. Wer „Menschen für Menschen“unterstützen will: Spendenkonto Nr. 18 18 00 18, Stadtsparkasse München (BLZ 701 500 00) Internet: www.menschenfuermenschen.de
Ansprechpartner für die Würzburger Aktionsgruppe von „Menschen für Menschen“: Reinhold Scheiner, Tel. (0 93 03) 15 64