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SCHWEINFURT
Absage an das Große Ganze
Katharina Winterhalter
Katharina Winterhalter
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:07 Uhr

Als Linde Unrein ein kleines Mädchen war, schenkte ihre Mutter ihr das Buch vom Mäxchen. Das Häschen war wie die kleine Linde: es aß nicht, schlief nicht, es malte bloß. Sobald Linde Buntstifte in der Hand hatte, wurde sie ruhig und fühlte sich gleichzeitig wunderbar lebendig. Das ist bis heute so geblieben. Trotz dieser großen Lust am Zeichnen und Malen, sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis sie – zu diesem Zeitpunkt längst anerkannte Psychiaterin und Psychotherapeutin – den Mut fand, sich künstlerisch auszudrücken. Nicht nur nebenbei im stillen Kämmerlein, sondern gleichberechtigt neben dem geschätzten Beruf und mit dem unbedingten Willen, auch voranzukommen.

Vor jeder neuen Ausstellung drängen sich existenzielle Fragen auf: Wo stehe ich? Was mache ich? Welche Bedeutung hat das, was ich tue? In den Monaten der Vorbereitung auf ihre Ausstellung in der Sparkassengalerie wurde Linde Unrein klar, was die Psychotherapie und ihre künstlerischen Ausdrucksformen gemeinsam haben: beide sind, sagt Unrein, subjektiv und personenbezogen. Sie erkannte das eigene Wahrnehmen und Erleben als das zentrale Instrument, um die Welt zu erfassen. Und so beschreibt sie sich selbst als eine „mit kindlichem Staunen durch die Welt Flanierende“, die immer offen für Menschen, Gegenstände, Ideen, Musik oder Literatur ist, die etwas in ihr anrühren.

Das kann ein Schatten auf der Leinwand sein, der sie zur abstrahierten Architekturform anregt, ein Wollknäuel in ihrer Lieblingsfarbe Blau, das sie dann irgendwann intuitiv einer ihrer Figuren in die Hand malt oder ein Zitat wie das von Walter Benjamin, der sagte „Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn“. Was sie anspricht, hat oft fragmentarischen Charakter. Malend, zeichnend und Gedichte schreibend versucht sie, diese Einzelteile in einen Kontext zu bringen.

Auf der einen Seite bedeutet die Kunst also pure Lust, Lebendigkeit und die Möglichkeit, sich den Zwängen und Notwendigkeiten des Alltags zu entziehen. Aber es gibt auch die schmerzliche, schwer zu beschreibende Seite, die im Titel der Ausstellung ihren Ausdruck findet: „Absage an das Große Ganze“.

Linde Unrein malt auch aus dem Bedürfnis heraus, einen Austragungsort zu schaffen, an dem sich das Leben im Kleinen abspielt, an dem sie sich ein Gegenüber schafft, mit dem sie in Beziehung treten kann – als Vertreter des Allumfassenden, von dem sie sich getrennt fühlt. Leben bedeutet für sie auch, auszuhalten, dass sie nie das „Große Ganze“ wird erfassen können. Der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques Lacan nannte dieses Nicht-Wissen die Leere, der der Mensch ausgesetzt sei.

Also füllt er diese Leere, je nach Möglichkeit, Ausbildung oder Charakter mit Forschung, Konsum, Drogen, Ideologien, Arbeit, Sport oder Kunst. Das Gehirn füllt die Lücken mit Geschichten und Bildern. Auch Linde Unreins Bilder sind Erzählungen, in denen sie versucht, Zusammenhänge zu schaffen.

Für die Schweinfurter Ausstellung hat sie eine Reihe von neuen großformatigen Gemälden und Collagen geschaffen. In „Mind the Gap“ wirkt die Titelfigur stark: eine Kämpferin im Tarnanzug, mit grobem Schuhwerk, scheint fast die Leinwand zu sprengen. Erst auf den zweiten Blick sieht der Betrachter, dass sie ins Leere tritt. Linde Unrein setzt sich hier mit der allgegenwärtigen Unsicherheit in der Welt auseinander. In einer Welt, in der selbst für Politiker der Konflikt das Normale sei.

Das letzte Bild, das sie für die Ausstellung gemalt hat, trägt den Titel „Ecce...“ (Schaut!). Natürlich will Linde Unrein, dass wir genau hinsehen. Sie hat eine junge Frau gemalt, die offensichtlich auf der Straße lebt. Blass und kahlköpfig ist sie, sie sitzt auf der Erde, klammert sich an ihre Zigarette und an das Tier, das neben ihr liegt. Ein gefährliches Wesen, halb Hund, halb Hyäne. Dieses Menschenkind hat einen schwierigen Weg gewählt oder ist auf einen solchen geraten. Auch das ist ein Thema von Linde Unrein.

Linde Unrein: „Absage an das Große Ganze“, Sparkassengalerie. Eröffnung 23. Juni, 19 Uhr. Zu sehen bis 4. September.

 
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