Der Amerikaner Kevin Rouse legt in der Nähe der Löwenbrücke weiße Blumen nieder. Vor 67 Jahren ist sein Onkel hier bei der Eroberung Würzburgs gefallen.
Kevin Rouse geht langsam am Main entlang. Es ist ein schöner sonniger Tag. An der neuen Schiffanlegestelle, die am rechten Mainufer mainabwärts hinter der Löwenbrücke liegt, bleibt er stehen und schaut auf ein Foto, das er in der Hand hält. Es zeigt einen jungen Mann: William Wayne Rouse, Soldat der 42. US-Infanteriedivision, der sogenannten „Rainbow Division“. Er ist am 3. April 1945 an dieser Stelle bei der Eroberung Würzburg gefallen. William war 18 Jahre alt.
Kevin Rouse, erfolgreicher Anwalt aus der Gegend von Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota, folgt den Spuren seines toten Onkels, den er nie kennengelernt hat. Der 55-Jährige ist kein sonderlich sentimentaler Mensch, aber später wird er von den überwältigenden Gefühlen sprechen, die ihn überfallen haben, als er zum ersten Mal an dem Ort stand, an dem William gekämpft hat und gestorben ist.
Die Rouse-Familie hat selbst deutsche Wurzeln. In der Mitte des 19. Jahrhundert sind Kevins Vorfahren in die USA ausgewandert, wie Hunderttausende andere Deutsche, die vor Hunger und politischer Bevormundung flohen. Erst lebten sie in Ohio, später in Nebraska, wo Wayne geboren wurde.
Ausgerechnet in diesem Teil Nebraskas, wo besonders viele Deutschamerikaner wohnten, richtete die amerikanische Regierung ein Lager für deutsche Kriegsgefangene ein. Sein Vater berichtete Kevin, dass Verwandte und andere Deutschstämmige regelmäßig zum Camp gingen und sich mit den Insassen durch den Stacheldrahtzaun hindurch auf Deutsch unterhielten. „Vielleicht gibt es auch in der Würzburger Gegend noch Männer, die im Lager bei Grand Island gefangen waren“, sagt er. „Sie müssten jetzt Ende Achtzig sein.“
Der Todestag seines Onkels William war ein trüber Dienstag gewesen. Am Sonntag davor hatten die Würzburger in der am 16. März fast völlig zerstörten Stadt in Kellern und Notunterkünften noch Ostern gefeiert. Jeder wusste, dass Würzburg den hoffnungslos überlegenen Amerikanern in die Hände fallen würde, doch die Nazis um Gauleiter Otto Hellmuth verbreiteten Durchhalteparolen. „Feiglinge sind rücksichtslos zu beseitigen“ hieß es in einem Aufruf. Entsprechend heftig war der Widerstand.
Am 1. April, dem Ostersonntag, stießen die Alliierten über Rottenbauer nach Heidingsfeld vor. In der Nacht zum Ostermontag, dem 2. April, zogen sich die letzten deutschen Einheiten auf das rechte Mainufer zurück. US-Truppen besetzten Katzen- und Nikolausberg und beschossen die Stadt; von der Keesburg aus feuerten die Deutschen zurück. An diesem Ostermontag schlug die letzte Stunde der Mainbrücken: Gegen 11.30 Uhr wurde ein Teil der Löwenbrücke in die Luft gejagt, um 16.45 Uhr die Alte Mainbrücke und eine halbe Stunde später die heutige Friedensbrücke.
Auch dass die GIs sich durch ein paar gesprengte Brückenbögen nicht von der Überquerung des Mains würden abhalten lassen, war allen klar. In der Nacht zum Dienstag brachte die Rainbow Division nördlich der Löwenbrücke zwei Gruppen von Rangern mit einem am Ufer entdeckten Ruderboot über den Fluss. Bei Tagesanbruch setzten gegen 6.30 Uhr weitere Amerikaner in Sturmbooten über und errichteten auf der rechten Mainseite einen Brückenkopf.
War die nächtliche Aktion nicht bemerkt worden, so gerieten die GIs jetzt, bei Tagesanbruch, unter deutsches Scharfschützenfeuer. Sie suchten Deckung an der Hochwasserschutzwand. So weit hat es der 18-jährige William Rouse nicht mehr geschafft; ihn traf wohl schon in Flussnähe eine tödliche Kugel. Wahrscheinlich war er das erste amerikanische Opfer, das der mehrtägige Kampf um Würzburg forderte.
Sein Neffe Kevin hat den Besuch in der Schicksalsstadt seiner Familie sorgfältig vorbereitet. Per E-Mail hat er sich vor dem Abflug mit überlebenden Angehörigen der Rainbow Division ausgetauscht. Etwa 100 Meter unterhalb der Löwenbrücke, erfuhr er, hatten die Amerikaner, unter ihnen sein Onkel, an jenem 3. April 1945 bei der Überquerung des Flusses mit einer starken Strömung gekämpft, die sie abzutreiben drohte.
Auch Kevin näherte sich dem verhängnisvollen Ort auf dem Wasser. Er hatte eine Flusskreuzfahrt auf der „River Ambassador“ gebucht, die ihn von Nürnberg nach Köln bringen sollte.
In der Nacht bewegt sich das Schiff, von Bamberg kommend, langsam auf Würzburg zu. Um vier Uhr morgens wacht Kevin auf; kein Wecker hat geläutet. Er blickt aus dem Kabinenfenster und sieht, dass das Schiff unterhalb der Löwenbrücke festgemacht hat, also genau an der Stelle, an der sein Onkel damals das rechte Mainufer betrat. Noch bevor die Sonne am Himmel steht, geht er von Bord, läuft über die Ludwigsbrücke und dann zurück ans rechte Ufer. Er zählt die Schritte und stellt fest, dass sich die Mitte der „River Ambassador“ 100 Meter von der Brücke entfernt befindet.
Am Tag zuvor hat Kevin Rouse in Bamberg weiße Blumen gekauft. Jetzt legt er sie an dem Ort in Ufernähe nieder, an der sein Onkel gestorben ist. „Davon hatte ich immer geträumt“, sagt er. Und: „Plötzlich überkam mich eine große Ruhe“. Er erinnert sich an die Frage, die er als Sechsjähriger seinem Vater gestellt hatte: „Wer ist dieser Onkel Wayne, und warum kann ich ihn nicht treffen?“ Irgendwie hat er die endgültige Antwort gerade eben bekommen.
Der Kampf um das erbittert verteidigte Würzburg dauerte damals mehrere Tage; etwa 300 weitere Amerikaner und 1000 Deutsche starben bis zum Freitag, dem 6. April. Die Löwenbrücke war schnell notdürftig repariert und der Nachschub der Alliierten konnte ungehindert fließen.
Kevin Rouse hat in seiner Kindheit viele Geschichten über den Onkel gehört, der im Krieg in Deutschland gestorben ist. Die Familie Rouse lebte damals in Nebraska auf einer Farm. Als er erfuhr, dass William gefallen war, erlitt sein Vater – Kevin Rouse' Großvater – einen Herzinfarkt und starb. Alleine mit ihrem zweiten Sohn, Kevins Vater, konnte die Großmutter die Farm nicht halten und verkaufte sie. „Ich bewundere meine Großmutter noch heute dafür, dass sie das alles alleine gemeistert hat“, sagt Kevin.
Die Großmutter wollte unbedingt mehr über den Tod ihres Sohnes erfahren. Sie sprach mit Zurückgekehrten und sammelte alles, was sie über den Kampf um Würzburg bekommen konnte. „1996 fand ich die Kiste, in der sie ihre Unterlagen aufbewahrt hatte“, erinnert sich Kevin. „Auch ich musste mehr über Williams Tod wissen. Schließlich ist er ein Teil meiner Familiengeschichte.“
Er ermittelte überlebende Soldaten, las Bücher über die Gefechte in Deutschland und beschloss schließlich nach langen Jahren, den Ort zu besuchen, an dem sein Onkel gefallen war.
Kevin Rouse, ein kräftiger Mann mit ebensolcher Stimme, hat leise gesprochen, als er die Empfindungen beschrieb, die mit seinem Onkel zusammenhängen. Aber er ist auch ein amerikanischer Tourist, und jetzt erzählt er begeistert von der Residenz-Besichtigung, vom Gang zur Festung und vom Weißbier, das er in einem Café an der Alten Mainbrücke getrunken hat. Er sammelt Bierkrüge, und natürlich hat er sich einen mit der Aufschrift „Würzburg“ gekauft. Das volle Programm eben.
„Wenn mich in Zukunft jemand fragt: ,Warum hast du einen Bierkrug aus Würzburg'? wird er eine ziemlich lange Geschichte zu hören bekommen“ sagt er und lächelt.
Kevin Rouse hat auch das Modell des zerstörten Würzburg im Gedächtnisraum im Grafeneckart gesehen und er hat es mit dem heutigen Zustand verglichen. Anerkennend spricht er von der Schönheit der ruhigen Universitätsstadt. Seinem Bruder und seiner Schwägerin hat er dringend ans Herz gelegt, bei einer Deutschlandreise Würzburg nicht auszulassen.
Und dann kommt er noch einmal auf den Grund seines eigenen Besuchs zurück. „Andere Amerikaner denken an Würzburg als Ort, an dem die Röntgenstrahlen entdeckt wurden oder als Heimat von Dirk Nowitzki.“ Er macht eine Pause. „Wenn ich ,Würzburg' höre, werde ich immer an Onkel Wayne denken.“