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Augsburg
Warum eine 88-Jährige aus Augsburg Angst vor einer Abschiebung hat
Die Entscheidung einer Behörde und eines Gerichtes lässt eine Familie in Augsburg verzweifeln. Es geht um die Frage einer Aufenthaltserlaubnis – und die Tücken des Rechts.
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Foto: Silvio Wyszengrad | Soll eine 88-Jährige abgeschoben werden?
Jan Kandzora
 |  aktualisiert: 06.06.2024 08:22 Uhr

Lena Ibragimova würde gerne noch einmal ihre Schwester besuchen, mit ihrer Tochter zusammen nach Russland fliegen, vielleicht für zwei Wochen dort sein, dann wieder zurück. Alleine, so sagt es ihre Tochter, schaffe ihre gebrechliche Mutter diese Reise nicht. Die betagte Frau, die seit etwa sechs Jahren in Augsburg lebt, ist 88 Jahre, ihre Schwester drei Jahre älter. Viel Zeit, einander über diese Distanz zu sehen, bleibt einem da in aller Regel nicht mehr. Doch ob die Seniorin den Flug antreten kann, ist nach derzeitigem Stand fraglich; da ihr die deutschen Behörden bisher eine Aufenthaltserlaubnis versagen, dürfte sie danach nicht wieder nach Deutschland einreisen. Es ist auch eine Geschichte über die Komplexität und Absonderlichkeiten des deutschen Aufenthaltsrechtes.

Im März dieses Jahres steht vor dem Verwaltungsgericht in Augsburg ein Verfahren an, wie es die dortigen Richter jede Woche erleben. Eine Frau hatte bei der Ausländerbehörde der Stadt eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, das Amt dieses Ansinnen abgelehnt. Darum klagte die Betroffene, in der Hoffnung, das Gericht werde den Bescheid der Behörde aufheben. Die Besonderheit des Falls liegen in den Umständen: Klägerin ist die 88-jährige Lena Ibragimova, die seit 2018 in Kriegshaber im Haus ihrer Tochter lebt und von der Frau und deren Mann betreut und gepflegt wird. Auch die Tochter ist gebürtige Russin, sie arbeitet in der Stadt als Ärztin. 

Die Antwort auf die Frage, ob die Seniorin eine Aufenthaltserlaubnis erhält - und damit ihre Schwester in Russland noch einmal sehen kann - hängt davon ab, ob das Gericht einen Härtefall annimmt. Im Gesetz heißt es, dass Familienangehörigen eines Ausländers "zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden" kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich sei.

Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn spezielle gesundheitliche Probleme bei einer Person vorliegen. Das Gericht erklärte die Rechtslage im Urteil, das unserer Redaktion vorliegt, folgendermaßen: Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten sei, dass ihr Wunsch, "sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint", spreche dies dagegen, "sie auf die Hilfeleistungen Dritter zu verweisen". 

Ausländerbehörde erkennt bei 88-Jähriger keinen Härtefall

Diesen Härtefall erkannte die Ausländerbehörde bei Lena Ibragimova nicht – und hat an diesem Tag die Einschätzung des Gerichtes auf ihrer Seite. Im 23-seitigen Urteil geht es in langen, detaillierten Ausführungen um den Gesundheitszustand der Seniorin, Mediziner bescheinigen ihr etwa eine schwere Osteoporose, eine demenzielle Erkrankung, Schmerzen im Rücken. Zwar komme eine Klinik zu dem Schluss, dass die Klägerin "ohne permanente Unterstützung durch die Angehörigen aufgrund ihrer Erkrankung zunehmend hilflos" sei, so das Gericht, dem Attest lasse sich aber nicht entnehmen, "dass die Klägerin zu einer selbstständigen Lebensführung überhaupt nicht mehr in der Lage wäre". 

Eine zentrale Haltung der zuständigen Kammer des Verwaltungsgerichtes lässt sich so zusammenfassen: Die 88-Jährige sei hilfsbedürftig, aber nicht in einem Ausmaß, dass zwingend die Familie in Deutschland die Pflege übernehmen müsse. Auch in Russland gebe es schließlich soziale Einrichtungen. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die 88-Jährige im Januar 2018 alleine gelebt habe und es ihr gelungen sei, damals eigenständig nach Deutschland zu reisen, heißt es im Urteil. Dass sich ihr Zustand seither drastisch verschlechtert hätte, sei anhand der vorliegenden Atteste nicht anzunehmen. 

Die Tochter der Seniorin lassen die Schlussfolgerungen der Kammer und manche Formulierungen fassungslos zurück. Bei einem Termin vor wenigen Wochen wirkt die Familie verzweifelt und aufgebracht; ihre Schilderungen springen teils wild durcheinander. In Russland, sagt die Tochter, gebe es doch niemanden aus der Familie mehr, der sich um ihre Mutter kümmere. Sie könne ihre Mutter doch nicht in das Land lassen, in dem sie außer einer älteren Schwester niemanden mehr habe.

Dass Lena Ibragimova aber möglicherweise per Zwang zurückgeführt wird, ist eine Angst, mit der die Familie derzeit lebt. Seit 2019 liegt gegen sie eine "Abschiebeandrohung" vor. Da die 88-Jährige derzeit auch keine sogenannte Duldung der Behörden habe, könnte sie theoretisch jederzeit ausgewiesen werden, sagt ihr Anwalt Ernst Lauffer. Das sei aber eher unwahrscheinlich, solange das Verfahren noch laufe.

Augsburger Familie aus Russland plagt die Ungewissheit

Sollten sie gemeinsam nach Russland reisen, sagt die Tochter, dürfe ihre 88-jährige Mutter aufgrund der Behördenentscheidung nicht wieder einreisen. Die Familie plagt die Ungewissheit, wie es nun weitergeht. Lena Ibragimova sagt, sie wolle nicht nach Russland zurück, sondern hier bleiben. 

Von der Stadt heißt es auf Anfrage, man könne sich zu einem konkreten personenbezogenen Einzelfall nicht äußern. Ganz allgemein könne man aber sagen, dass bei Auslandsreisen der ausländerrechtliche Status von großer Bedeutung sei. Wer etwa eine Duldung habe und aus Deutschland einreise, könne nicht wieder legal einreisen. Nach Auskunft der Stadt befasst man sich jährlich mit einer niedrigen fünfstelligen Anzahl von Anträgen zur Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln. Abgelehnt werden demnach nur wenige, die Zahl liege "in einem deutlich einstelligen Prozentbereich". Diese Entscheidungen hielten dann aber zumeist einer gerichtlichen Überprüfung stand, was ja auch bei der Seniorin der Fall ist. Zumindest bislang. 

Anwalt Ernst Lauffer sagt, in vergleichbaren Fällen würde den Betroffenen zumindest eine Erlaubnis erteilt, kranke Angehörige im Ausland einmalig besuchen zu dürfen - dies habe die Stadt aber in diesem Fall verwehrt. Er kritisiert das Vorgehen in dem Fall deutlich. Seine Mandantin, sagt er, sei eindeutig pflegebedürftig und falle hier doch auch niemandem zur Last; er könne nicht verstehen, warum sie keinen Aufenthaltstitel erhalte. Der Anwalt hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt.

 
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