Anna Decker(Name geändert, Anm. d. Red.) kennt noch andere Zeiten. Die Rentnerin wohnt seit vierzig Jahren mit ihrem Mann in einer Wohnung neben einem Biergarten in der Augsburger Altstadt. Früher sei es häufig laut gewesen, sagt sie. Wirte hätten wenig Rücksicht auf Anwohnerinnen und Anwohner genommen. Heute sei das anders, zum aktuellen Pächter gebe es ein "nachbarschaftliches Verhältnis". Zwar könne es auch mal lauter werden: "Rowdygruppen" oder "Kindergeschrei". Trotzdem kämeDecker nicht darauf, die Polizei zu rufen. Sie sagt: "Wir machen das Fenster zu."
Andere reagieren bei vermeintlicher Lärmbelästigung weniger gelassen: Ruhestörung war im vergangenen Jahr der häufigste Grund, warum Anwohner die Polizei zum benachbarten Biergarten gerufen haben. Das bestätigt Polizei-Pressesprecherin Marion Liebhardt auf Anfrage unserer Redaktion. "Das bedeutet aber nicht, dass die Beamten vor Ort tatsächlich eine Ruhestörung festgestellt haben", ergänzt Liebhardt. Im Ganzen betrachtet waren derartige Einsätze 2022 eher die Ausnahme. "Im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben Nord registrierten wir Einsatzzahlen im niedrigen zweistelligen Bereich", sagt die Sprecherin.
Augsburger Gaststätte Antons musste 2022 den Biergarten schließen
Kommt es aber zu Beschwerden, können die Konsequenzen schwerwiegend sein. So musste die Augsburger Gaststätte Antons im vorigen Sommer ihren Biergartennach Anwohnerbeschwerden komplett schließen. Dank hoher Investitionen in den Lärmschutz und mit strengen Auflagen konnte der traditionsreiche Biergarten in diesem Jahr wieder öffnen. Einigen Nachbarn passt das nach wie vor nicht, sie wehren sich weiterhin vor Gericht. Der "Fall Antons" ist nicht der einzige in der Region. In Donauwörth beschwerten sich Anwohner über die spätabendlichen Feiern im örtlichen Jugendzentrum. Die Partys mussten eingestellt werden, nun suchen die Organisatoren nach einer neuen Location. In Biberbach war der Dorfladen für zwei Nachbarn der Stein des Anstoßes. Sie klagten vor dem VerwaltungsgerichtAugsburg. Der Grund: Durch den großen Andrang sei der Lärm schlichtweg zu groß. Nun muss das Gerichtüber die Zukunft des Dorfladens entscheiden.
Besonders kurios erscheint ein Ärgernis der vergangenen Woche. In der Augsburger Altstadt wurde wegen vermeintlicher Ruhestörung eine Kunstinstallation aus dem Kanal geholt. Das Wasserfahrrad, seit 2020 ein Besuchermagnet am Mittleren Lech, brachte dem Vernehmen nach einen Anwohner um seine Nachtruhe. Grund war demnach das plätschernde Geräusch, wenn das Rad im Wasser bewegt wird. Nun sucht die Stadt unter Hinzunahme eines "Kümmerers", der unter den Beteiligten vermitteln soll, nach einer "einvernehmlichen Lösung" – Ausgang offen.
Die Idee eines "Kümmerers" halten Angelika und Ernst Bauer für eine "hervorragende Idee". Die Ehepartner arbeiten als Mediatoren für den Verein MediationAugsburgSchwaben und sind unter anderem auf Nachbarschaftsstreitigkeiten spezialisiert. Mithilfe eines "Kümmerers" fühle sich der Anwohner in seinen Bedürfnissen gesehen, was für eine zufriedenstellende Lösung unverzichtbar sei, erklärt Angelika Bauer. Und das sei in diesem Fall der Wunsch nach Ruhe, während sich die Gegenseite an dem Kunstobjekt erfreue.
Grundsätzlich seien Auseinandersetzungen dieser Art – beispielsweise zwischen einem Wirt und Teilen der Nachbarschaft – relativ einfach zu lösen. "Es gibt zumindest eine Gesetzesgrundlage, auf die man sich berufen kann, während in Familien oft mit Emotionen argumentiert wird", sagt die Mediatorin.
Das Café VIKTOR im Augsburger Bismarckviertel gibt es seit 2001
Von Wirtseite aus sei es wichtig, präventiv auf die Nachbarschaft zuzugehen, sagt Ernst Bauer. Stünden Hochzeitsfeiern oder ein Bandauftritt im Biergarten an, sollte der Wirt das vorher ankündigen – über persönliche Gespräche oder Aushänge im Viertel. Das führe zum gegenseitigen Kennenlernen und schaffe Toleranz. "Wenn ich zum Wirt einen Bezug habe, entwickle ich in der Regel mehr Verständnis", sagt Bauer.
Von Vorteil als Wirt ist deshalb, wenn man in seinem Viertel verwurzelt ist – so wie Bernard Golik. Der Augsburger betreibt seit mehr als zwanzig Jahren das Café VIKTOR im Bismarckviertel. Natürlich habe es über einen so langen Zeitraum auch mal Beschwerden wegen Ruhestörung gegeben, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. "Es kommt aber selten vor." Das führt Golik darauf zurück, dass er alteingesessen sei, die Nachbarn würden ihn kennen, so der Wirt. Darüber hinaus halte er sich strikt an die Vorgaben. "Um 23 Uhr schließen wir den Biergarten", sagt er. Gebe es doch mal eine Beschwerde, gehe er auf denjenigen zu und suche das Gespräch. Sein Motto laute: "Defensiv, aber nicht devot". "Meinen Rücken will ich nicht verbiegen", sagt Golik.
Ähnlich harmonisch gestaltet sich die Situation bei Anna Decker. Tritt die Rentnerin vor ihr Wohnhaus, begegnet sie häufig dem Wirt des benachbarten Biergartens. "Er ist präsent", sagt sie. War es am Abend zuvor etwas lauter, dann entschuldigt sich der Wirt. "Es ist ein gutes Verhältnis, dafür sind wir dankbar." Trotzdem: Der Sommer ist lang, und der Biergarten hat bei schönem Wetter täglich abends geöffnet. Deshalb sagt Decker mit einem Lachen: "Gibt es Regentage, tut das auch mal gut. Dann können wir das Fenster auflassen."