Was passiert ist? Yan Kolba, oberkörperfrei, beugt sich im Sitzen leicht nach rechts und zieht behutsam die weiße Decke nach oben, bis sein blanker Oberschenkel sichtbar wird. Eine längliche Narbe schlängelt sich hoch, mehr als 30 Zentimeter lang. Die neue Hautschicht wölbt sich etwas über die alte, dort, wo Mitte Juni das Projektil einschlug. Es zerfetzte weite Teile des rechten Oberschenkels, rauschte durch Muskeln, Knochen und Haut – bis es im linken Oberschenkel stecken blieb. Dort steckt es auch heute noch, sieben Monate, nachdem Scharfschützen das Feuer auf Kolba eröffnet hatten. Der 24-Jährige ist Ukrainer, Soldat – und eines der Kriegsopfer, die am Uniklinikum Augsburg (UKA) behandelt werden.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs hat Deutschland gut 620 ukrainische Patientinnen und Patienten zur stationären Behandlung übernommen. Dies teilt das bayerische Innenministerium auf Anfrage mit. 107 der Betroffenen landeten im Freistaat, rund zehn davon – Zivilisten und Soldaten – an der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie, Plastische und Handchirurgie am UKA. "Das klingt überschaubar, ist aber genau das Gegenteil", sagt Edgar Mayr, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie. Der Behandlungsaufwand hinter jedem Fall sei "extrem hoch", pro Patient seien im Schnitt zehn bis zwölf Operationen notwendig. Während ukrainische Verwundete mit "einfacheren" Verletzungen auch in kleineren Kliniken im Umkreis behandelt würden, landeten am UKA die "komplizierten" Fälle.
Uniklinik Augsburg behandelt Kriegsopfer aus der Ukraine
Kompliziert auch deshalb, weil der Erfahrungsschatz mit Kriegsverletzungen an deutschen Krankenhäusern überschaubar ist, das UKA ist da keine Ausnahme. "Schussverletzungen kommen hier schon vor", sagt Mayr. "Aber diese Fälle, sowohl in Umfang als auch in Qualität, sind für uns neu. Das sind schreckliche Verletzungen." Oberarzt Gerald Kelp zählt auf: "Klassische Schusswunden, aber auch Gesichtsdurchschüsse, Explosions- und Splitterverletzungen, offene Frakturen, abgestorbenes Gewebe, schwere Wirbelsäulenschädigungen bis hin zur Querschnittslähmung. Und und und." Doch nicht nur die unmittelbaren Verletzungen, die meist in der Ukraine schon vorläufig versorgt wurden, sind ein Problem. Da dadurch Bakterien und Fremdpartikel in den Körper gelangen und die hygienischen Bedingungen im Kriegsgebiet fatal sind, tragen fast alle Verletzten multiresistente Keime in sich. Diese können schwere Infektionen hervorrufen, sind aber selbst mit spezialisierten Antibiotika nur schwer in den Griff zu bekommen.
Auch Yan Kolba trägt multiresistente Keime in sich. Er ist deshalb allein im Zimmer, das UKA-Personal zieht vor Betreten eine Schutzmontur aus Kittel, Haube und Handschuhen über. Der 24-Jährige, der aus Petrykiwka in der Nähe der zentral-westlichen Großstadt Dnipro stammt, kämpfte an verschiedenen Fronten, bevor er getroffen wurde. Er kam erst in ein Krankenhaus in Dnipro, dann nach Kiew, bevor er Anfang Dezember über den europäischen Katastrophenschutzmechanismus (UPCM) im UKA landete. Verlegt werden Betroffene wie Kolbaüber den "Kleeblatt-Mechanismus". Das Prinzip: Je nach Kapazitäten werden die Patienten und Patientinnen möglichst gleichmäßig auf fünf Regionen und dann auf Krankenhäuser verteilt.
Verletzungen, Sprache und Verteilung fordern Krankenhaus-Personal heraus
Grundsätzlich, erklärt Direktor Mayr, übernehmen die Krankenhäuser Kriegsverwundete freiwillig. Neben dem UKA seien etwa auch die Kliniken in Kempten, Kaufbeuren oder Dillingen sehr engagiert, wobei nicht alle Häuser die oft komplexen Verletzungen behandeln könnten. Zumal die Kapazitäten überall eng bemessen seien. "Auch wir waren schon vor dem Krieg am Limit und oft darüber", sagt Mayr. Die Kriegsverletzten müssten sehr aufwendig und oft über mehrere Monate behandelt werden, dadurch komme es an anderer Stelle auch zu OP-Verschiebungen. "Unser Anspruch ist, sowohl die Ukrainer als auch die eigene Bevölkerung so schnell und gut wie möglich zu versorgen", so Mayr. "Wenn hier aber jemand aufschlägt, der einen Gesichts-Durchschuss hat – spielt dann eine Rolle, woher der kommt?"
Eine weitere Herausforderung ist die Sprache. Verständigung mit den Verletzten ist allein schon deshalb unerlässlich, damit das medizinische Personal Beschwerden und Vorgeschichte einschätzen kann. Auf Kolbas Station teilen sie das Personal deshalb so ein, dass immer eine russisch oder ukrainisch sprechende Pflegekraft als Ansprechpartnerin zur Verfügung steht. Kontakt zu seiner Familie in der Ukraine hält der 24-Jährige per Smartphone, ab und zu kommen Bekannte aus München und Augsburg zu Besuch. Er sei "dankbar und glücklich", dass und wie er in Augsburg behandelt werde, sagt er. Auch wenn es natürlich hart sei, wenn er an den Krieg daheim denke. Doch sobald er wieder gesund sei, wolle er zurückkehren – und dann auch wieder gehen können. Die Chancen stehen gut.