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Augsburg
Jesiden zu Prozess um geplanten Ehrenmord: "Wir bringen doch niemanden um"
Die Mordpläne eines jesidischen Vaters an seiner Tochter wühlen die Gemeinschaft in Augsburg auf. Die strengen Heiratsgesetze seien ein Problem, sagt ein Experte.
Verbrechen gegen Jesiden sind als Völkermord anerk       -  Zwei Kuscheltiere hängen an einem Zaun vor einem Massengrab im Nordwesten des Iraks. Jesiden werden Jahrtausenden verfolgt. Um das Überleben zu sichern, entwickelten sich strenge Hochzeitregeln.
Foto: Benno Schwinghammer, dpa | Zwei Kuscheltiere hängen an einem Zaun vor einem Massengrab im Nordwesten des Iraks. Jesiden werden Jahrtausenden verfolgt. Um das Überleben zu sichern, entwickelten sich strenge Hochzeitregeln.
Stefanie Schoene
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:28 Uhr

Am Augsburger Amtsgerichtläuft ein Prozess, der bundesweit für Aufsehen sorgt. Angeklagt sind ein jesidischer Vater und sein Sohn. Über vier Jahre sollen die beiden die jüngere Tochter drangsaliert haben. Im Mai letzten Jahres sollte es zum Äußersten kommen. Das Mädchen musste in der elterlichen Wohnung mit anhören, wie die Familie über den Mord an ihr beratschlagte. Der Vater hatte nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft festgestellt, dass sie mit einem muslimischen Jungen in Augsburg liiert war. Der Vater soll sie aufgefordert haben, sich von einer Lechbrücke zu stürzen. Auch der Freund des Mädchens soll von dem 44-Jährigen mit dem Tod bedroht worden sein. Das Mädchen floh, das Jugendamt nahm sie in Obhut und vermittelte sie in eine Pflegefamilie. Wie leben Jesiden in Augsburg– und was sagen sie zu dem aufwühlenden Fall?

In Augsburg leben nach Angaben des Ezidischen Kulturvereins etwa 500 Familien, die dieser kurdischsprachigen Minderheit angehören. Sie stammen zumeist aus dem Irak, flohen in den 1990er-Jahren vor Krieg, Diktator Saddam Hussein und der Terrorgruppe IS. Das Jesidentum ist eine der ältesten Religionen der Welt. Ihr Glaube kennt einen Gott, aber keinen Propheten und keine heilige Schrift. Im kulturellen Gedächtnis sind 74 Massenmorde verankert, die von Muslimen verübten Vernichtungszüge prägen ihre jahrtausendealte Geschichte. Eine Mauer aus strengen Normen wie die Endogamie, also das Heiratsverbot mit Nicht-Jesiden, sicherte das Überleben. Auch Hochzeiten zwischen den fünf Kasten, in die die Gläubigen eingeteilt sind, sind nicht möglich. Die Wunden des letzten Massakers sind noch frisch. 2014 wütete der IS in Irak, richtete Tausende Männer in den jesidischen Dörfern hin, entführte die Mädchen und Frauen, verkaufte und versklavte sie. Viele Familien kamen nach ihrer verzweifelten Flucht auch in Augsburg an.

Prozess in Augsburg: Jesidischer Verein kennt die betroffene Familie nicht

In der letzten Woche, am Tag des Prozessbeginns in Augsburg, erkannte der Deutsche Bundestag diese Massaker des IS als Völkermord an. Rashid Khidir, der Vorsitzende des Ezidischen Kulturvereins in Augsburg, fuhr dazu nach Berlin. Auch der Amir genannte oberste Geistliche war aus dem heiligen irakischen Lalish angereist. Khidir ist noch immer tief berührt von diesem Moment. "Wir waren etwa 100 Jesiden dort. Es war für uns ein großer Augenblick. Die Abgeordneten standen auf, drehten sich zu uns um und applaudierten", sagt der 43-Jährige.

Das Mädchen aus Augsburg und dessen Familie kennt der Verein nach Aussage Khidirs nicht. Er und drei weitere Vorstände verurteilen die Taten in einem Gespräch. Sie sind empört. "Vor dem Jugendamt soll er gesagt haben, hinter ihm stünden 500 weitere Familien, die den Mord zu Ende bringen würden, wenn er es nicht schafft. Wir wissen nicht, woher er das hat. Aber es ist auf keinen Fall zutreffend." Hochzeiten mit Nicht-Jesiden sind allerdings tatsächlich ein Problem. Die Männer sind sich einig: "Unsere Kinder sind frei. Wenn sie das so entscheiden, können sie gehen." Ist dann der Kontakt abgebrochen? Einhelliges Nicken: Ja. "Aber wir bringen sie doch nicht um", sagt Khidir.

Experte zu Prozess um geplanten Ehrenmord: "Autoritäres System ernst nehmen"

Zuwiderhandlung hat in der jesidischen Gemeinschaft die Ausgrenzung oder Verstoßung zur Folge, wie Jan Kizilhan, Psychologe, Islamwissenschaftler, Iranist und selbst Jeside, in einem Gespräch mit unserer Redaktion erklärt. Mord oder die konkrete Planung eines Mordes seien zwar Einzelfälle, aber auch die Ausgrenzung müsste als Symptom eines patriarchalischen, autoritären Systems ernst genommen werden. "Bei der dritten und vierten Generation der Jesiden in Deutschland kann man beobachten, dass sie alte Begriffe wie 'Ehre' wieder aufschnappen und mit ihr im Namen der Religion anfangen, ihre Schwestern, Mütter und Frauen zu reglementieren."

Der Wissenschaftler sagt: "Ehre ist nicht religiös. Es ist ein patriarchales Ordnungsinstrument archaischer Gesellschaften. Für demokratische Gesellschaften in einem Rechtsstaat ist es Gift." Und er sagt: "Auch wenn Frauen religiös gleichberechtigt sind, sind in der Mehrheit Frauen die Opfer", so der Psychologe. Die Jesiden müssten sich anpassen und Wege finden, vor allem den Mädchen Freiheit zu geben. "Sie müssen selbst entscheiden können", sagt er bestimmt. Der Druck könne später zu schweren psychischen Störungen führen. "Solche Brüche sind schwer zu heilen", warnt er.

Dass der Konflikt zwischen Loyalität, Religion und Liebe bei Heranwachsenden Stress und Schulprobleme auslösen kann, spielt für die vier Vorstände des Vereins keine Rolle. "Es geht eben nicht. Wenn sie unbedingt außerhalb heiraten wollen, müssen sie gehen. Vielleicht ist es in zwanzig Jahren anders", sagen sie dort übereinstimmend. Beim Augsburger Runden Tisch der Religionen, so kündigt Khidir an, wolle er das Thema jedoch für Montag auf die Tagesordnung setzen. Die offene Aussprache sei ihm wichtig. Der Prozess vor dem Amtsgericht wird am Donnerstag fortgesetzt.

Hören Sie sich dazu auch unsere Podcastfolge über spannende Kriminalfälle in Augsburg an:

 
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