Türkische Popmusik kommt aus den Lautsprechern, während der Bus vom Plärrergelände in Augsburg in Richtung Autobahn rollt. Hinter der Frontscheibe klemmt die rote Nationalflagge - und die gelbe Fahne der AKP, der türkischen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. "Dies hier ist der Bus der AKP", erklärt Nadir Ferat. "Die anderen haben ihre eigenen Busse." Für Erdoğan und die türkische Gesellschaft geht es bei dieser Schicksalswahl um alles, das sieht auch Ferat, der früher Manager beim Fußballverein Türkspor Augsburg war, so. Der Augsburger Bus ist mit etwa 40 Männern und Frauen unterwegs zum Wahllokal, das die türkische Botschaft vor zwei Wochen im leeren Galeria-Kaufhaus der Münchener Innenstadt eingerichtet hat. Mit "die anderen" meint Ferat die Gegner Erdoğans. Dass schon bei der Fahrt zur Urne öffentlich wird, wer was wählt, mag für Deutsche ungewöhnlich sein. Für Türken, sagt Ferat, sei es besser so. Wie bei zwei Fußballmannschaften. Die würden ja auch nicht im selben Bus zum Spiel fahren.
Ein 28-Jähriger sitzt nachdenklich in der letzten Reihe des Busses. Eigentlich will er nicht über diese Themen reden, sagt er. Er sieht sich selbst als Deutschen. Schließlich sei er in Augsburg geboren, habe hier seine Schlosserausbildung gemacht. Trotzdem müsse er sich wegen Erdoğan blöde Sprüche der Kollegen anhören. Sticheleien, wenn er zur Brotzeit nicht zum Leberkäse greift, kämen dazu. Das mache das Deutschsein nicht einfach. Was ist mit der deutschen Staatsbürgerschaft? "Ich bin ja Deutscher. Aber was würde ein deutscher Pass in diesen Situationen nützen? Am Arbeitsplatz würde ich trotzdem der Türke bleiben."
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Von Deutschland aus über das Schicksal der Türkei mitzuentscheiden, kommt ihm allerdings auch nicht richtig vor. Seine Stimme gibt er trotzdem Erdoğan. "Kiliçdaroglu hat ein Bündnis mit Terroristen geschmiedet", sagt er. "Das ist nicht gut für das Land." Mit "Terroristen" meint er die Anhänger der prokurdischen Partei der Völker (HDP), die den republikanischen Kandidaten Kiliçdaroglu unterstützen. Auch Fortschritte in der Infrastruktur und im Gesundheitswesen seien ein Verdienst Erdoğans, ist er überzeugt. Der Busservice wurde organisiert von der Union Internationaler Demokraten (UID), einer weltweiten Lobbyorganisation der AKP. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schrieb 2018, Ziele und Aktivitäten der UID seien mit der freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht zu vereinbaren.
Ahmet Yurt, der Vorsitzende der UID Augsburg, weiß davon nichts, sagt er. Er wolle helfen, zum Beispiel mit dem Busservice. Der 55-Jährige kam mit seiner Frau vor fast 30 Jahren nach Augsburg. In der Türkei war er Mathelehrer. In Gersthofen eröffnete er ein Unternehmen für Friseurbedarf und einen eigenen Salon. Was gefällt ihm an Erdoğan? "Ich sehe, dass die Verwandten in der Türkei glücklich sind, dass sie aufsteigen können", sagt er. "Das haben sie ihm zu verdanken, und ich will, dass es ihnen weiter gut geht."
11.000 türkische Staatsbürger leben laut dem aktuellen städtischen Strukturatlas in Augsburg. Wie viele von ihnen volljährig, also in der Türkei wahlberechtigt sind, wird nicht erfasst. Von den 5500 unter ihnen, die beide Pässe haben, sind 2000 wahlberechtigt, wie aus den Zahlen hervorgeht. Aktiv sind in Augsburg nicht nur Anhänger Erdoğans. Die türkischen Oppositionsparteien haben sich vor sieben Wochen zum "Arbeits- und Freiheitsbündnis" zusammengeschlossen. Darunter die beiden alevitischen Vereine, Einzelpersonen, HDP und ein Mitglied der Arbeiterpartei der Türkei (TIP).
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Sie organisierten auch einen Busservice, Veranstaltungen, Hausbesuche und Briefkastenwerbung. "Für uns geht es um die nächsten hundert Jahre. Entweder wir bekommen einen demokratischen, säkularen Staat oder es wird dunkel im Land", sagt Perihan Baçaru. Die 59-Jährige ist Co-Sprecherin des Bündnisses. Seit den 1980ern lebt sie als Mutter, Hausfrau und gelernte Verkäuferin in Augsburg. Seit dem Jahr 2000 ist sie eingebürgert, besitzt aber auch den türkischen Pass. In Augsburg, sagt sie, falle in diesem Jahr auf, dass viele Frauen ihre Stimme abgeben wollen. "Ich glaube, das verheerende Erdbeben gab ihnen das Gefühl, es müsse sich etwas ändern. Viele von ihnen gehen das erste Mal wählen."
In München ausgestiegen, geht es auf dem Weg zum Wahllokal an den Ständen der Parteien vorbei. HDP, Kommunistische Partei, Arbeiterpartei TIP. Erst am Ende des Bürgersteigs, mit Abstand zu den anderen, folgt der AKP-Stand mit dem Konterfei Erdoğans. "Es ist ruhig hier, es gab keinen Ärger zwischen uns", berichtet Erhan Lale. Der Augsburger Programmierer ist Mitglied der TIP, einer links-liberalen Kleinpartei mit vier landesweit populären Abgeordneten im türkischen Parlament. Lale studierte Informatik in Deutschland, ging dann jedoch zurück in die Türkei. Während der Auseinandersetzungen um den Gezi-Park in Istanbul 2013 wurde er von Tränengaspatronen im Gesicht schwer verletzt - und beschloss, auszuwandern. "Ich will für die Türkei ein menschenwürdiges, ein freies Leben. Eine friedliche Konkurrenz der Meinungen, so wie hier." Sollte Erdoğan die Wahl am 14. Mai verlieren, werde der Präsident auch abtreten, da ist er sich sicher. "Muss er ja. Verloren ist verloren", sagt auch der Schlosser im Bus.