Es ist ein strahlender Start in das letzte Wochenende vor Weihnachten. Die Sonne taucht die Stadt an diesem Samstagvormittag in warmes Licht, die Passantinnen und Passanten werden langsam mehr – und Andreas (Name geändert) nimmt einen Angriff wahr. Es geht um sein Revier, hier, auf der eisbedeckten Straße. "Ich weiß gar nicht, was das soll", sagt er und zeigt auf ein Pärchen, das ein paar Meter weiter Platz genommen hat. "Die haben hier nichts zu suchen, die beiden haben eine Wohnung." Er nicht. Ein paar wütende Blicke, dann legt Andreas einen zusammengefalteten Karton auf den Boden. "In einer Stunde sind die eh weg", sagt er, von oben bis unten eingepackt, und setzt sich. Es dauert nur ein paar Minuten und die beiden sind gegangen.
Wie viele obdachlose Menschen in Augsburg leben, weiß niemand so genau. In den Obdachlosenunterkünften der Stadt sind derzeit nach Auskunft des Sozialreferats 225 Menschen untergebracht, die Zahl der tatsächlich Betroffenen dürfte deutlich höher liegen. "Das Niveau ist konstant hoch", sagt Leyla Mitterer, Sozialarbeiterin beim Katholischen Verband für soziale Dienste (SKM). Wie auch die Stadt sieht Mitterer trotz Inflation und Energiekrise bislang keinen spürbaren Anstieg der Betroffenen insgesamt – teils könne man aber Veränderungen innerhalb der Gruppen beobachten. "Inzwischen nehmen zum Beispiel ukrainische Geflüchtete unsere Angebote wahr, die hatten wir sonst nie." Der Rest teile sich auf: Es gebe viele "Stammgäste", aber auch Durchreisende, häufig aus dem Osten Europas. Untertags seien der Oberhauser Bahnhof und der Königsplatz als Aufenthaltsorte beliebt, die anderen verteilten sich aufs Stadtgebiet.
Winter 2022: Kälteeinbruch setzt Obdachlosen in Augsburg zu
Eines eint alle: Der Kälteeinbruch wird zum Problem. Temperaturen unterschritten auch an diesem Wochenende die Minus-10-Grad-Marke, es galt eine amtliche Warnung vor strengem Frost. "Die Situation ist lebensgefährlich", betont Carina Huber, ebenfalls Sozialarbeiterin beim SKM. Dies gelte vor allem für Personen, die auf der Straße schlafen – etwa, weil sie es selbst so wollen oder weil sie als Drogenabhängige durchs Raster fallen. Auch Nicht-Augsburgerinnen und -Augsburger haben normalerweise keinen Anspruch auf einen Übernachtungsplatz in einer der Unterkünfte, über den Winter greift aber der sogenannte "Kälteschutz". Dadurch werden zumindest für eine Nacht ausnahmslos alle aufgenommen, die bei Minustemperaturen vor der Tür stehen. Schätzungen gehen mal von 30, mal von rund 60 Betroffenen aus, die in Augsburg trotzdem auf der Straße schlafen.
Andreas, so erzählt er, ist seit drei Jahren obdachlos. Er stammt aus einem anderen Teil Deutschlands, bekam nach einem Tod im familiären Umfeld psychische Probleme. Eine Arbeit fand und findet er nicht, "weil ich mich nicht gut unterordnen kann". Und so sitzt er nun – fünf Schichten am Körper, Mütze und Kapuze auf dem Kopf – an seinem Platz, liest und hofft auf ein paar Münzen. Immer wieder grüßt er Männer, die ähnlich gekleidet sind wie er, die Szene kennt sich. Stress unter Obdachlosen, sagt er, gibt es eigentlich nur, wenn sich einer nicht an die Regeln hält. Eine der wichtigsten: Auf der Straße respektierst du die Stelle, die ein anderer hat. Ein paar Stunden will er noch bleiben. Sobald Schatten auf ihn fällt, will er sich noch eine Decke überstülpen. Und wenn es dunkel wird, in die Johannes-Rösle-Straße gehen.
DKM, Kältebus, Wärmestube, Bahnhofsmission: Es gibt viele Hilfsangebote
Das dortige Übergangswohnheim ist eines von zwei städtischen. In der Johannes-Rösle-Straße ist Platz für 96 Männer, in der Stadtberger Straße für 30 Frauen. Darüber hinaus hält die Stadt 59 Wohnungen für Familien mit minderjährigen Kindern vor. Für den derzeitigen Bedarf reicht dieser Platz aus, sagt Leyla Mitterer vom SKM. Auch sonst stehe Augsburg in der Obdachlosen-Versorgung "mit Sicherheit nicht schlecht da". Das SKM erreiche mit dem Kältebus, der abends öffentliche Plätze anfährt, sowie mit der Wärmestube in der Klinkertorstraße viele Menschen. In die Wärmestube kämen etwa – je nach Wetter und Temperatur – zwischen 50 und 200 Personen pro Tag. Auch die Bahnhofsmission von Caritas und Diakonie dient als Anlaufstelle.
Das Hilfsnetzwerk über Augsburg ist also relativ dicht gestrickt. Trotzdem könne man die Situation immer verbessern, sagt Carina Huber vom SKM. Einerseits sei wichtig, dass sich die Bevölkerung melde, wenn Menschen auffielen, die draußen lebten und schliefen. "Dann können wir auf diese Menschen zugehen und Hilfe anbieten." Auch Spenden könne man immer brauchen – vor allem finanziell, um Angebote wie Streetworker aufrechterhalten zu können, aber zum Beispiel auch in Form von Schlafsäcken. In der vergangenen Woche etwa übergab der Verein Humanitas Aichach der Wärmestube 100 Schlafsäcke. Wer selbst anpacken will, ist nicht allein: Einen Aufruf, ehrenamtlich beim Kältebus mitzuhelfen, hat der SKM Ende der Woche zurückgezogen. Es haben sich so viele gemeldet, dass es fast zu viele geworden wären.